Mario Clavadetscher: «Mir reichten schon die Schmerzen im Training»

Mario Clavadetscher: «Mir reichten schon die Schmerzen im Training»

Juerg Kurath
06.05.2016

Auch im Kanton Graubünden ertüchtigen sich erstaunlich viele Personen bei der Ausübung einer fernöstlichen Sportart, wobei deren Unterscheidung für den Laien recht schwierig ist. GRHeute berichtet in einer zweiteiligen Serie über die Wing Chun Schule in Chur. Heute: Teil 2, das Interview mit Schulleiter und Haupttrainer Mario Clavadetscher.

Wie kamst Du zum Kampfsport bzw. der Kampfkunst, warum ausgerechnet zum Wing Chun und was fasziniert Dich an dieser Stilart?

Als Kind sagte mir Sport eigentlich nicht viel. Erst mit 14 Jahren habe ich bei Charlie Lenz mit Judo angefangen und bin dann ein Jahr später ins Karate und JuJitsu übergetreten. Charlie Lenz hat es verstanden, mich für Kampfkunst und Sport zu begeistern und so hat es mich dann derart gepackt, dass ich die meiste Freizeit im Dojo verbracht habe. Als meine Studienzeit in Zürich begann, wollte ich etwas Neues kennenlernen. Da Wing Chun damals eher neu war und ausserdem einen guten Ruf als Selbstverteidigungssystem hatte, begann ich 1992 mit meinem Wing Chun-Training und bin ihm bis heute treu geblieben.

Ich kenne einige Kampfkünste und habe auch mehrere regelmässig praktiziert. Da Wing Chun sehr effizient und kompromisslos funktioniert, überzeugte es mich von Anfang an. Meine kämpferischen Fähigkeiten verbesserten sich kurz nach Trainingsbeginn, weil ich die Konzepte schnell in andere Kampfstile übernehmen konnte. Auch ist es ein umfangreiches System, denn seit über 25 Jahren lerne ich immer noch Neues dazu und last but not least ist es ein Training, das ich wohl auch noch im höheren Alter betreiben kann. Die Verletzungsgefahr ist im Gegensatz zu Vollkontaktsportarten gering und trotzdem bietet mir Wing Chun gute Skills bezüglich Kampf und Selbstverteidigung.

Was bedeutet Wing Chun für Dich? Sport? Religion? Lebenseinstellung?

Die sportliche Komponente ist im Wing Chun sicher auch gegeben. Für mich ist es aber mittlerweile vor allem ein Hobby geworden, das mir Spass macht und mir sehr viel für mein alltägliches Leben bringt. Sicher ist es keine Religion für mich. Trotzdem hat das Training viele Interessensgebiete für mich hervorgebracht, die mein Leben bereichert haben. Ich bin dank Wing Chun oder auch anderer Kampfkünste selbstbewusster geworden, habe ein Bewusstsein für gesundes Training entwickelt – früher dachte ich immer, dass es kein Training ist, wenn es nicht weh tut – und bin auch dadurch zur Meditation gekommen, die mich innerlich ruhiger und gelassener gemacht hat. Wing Chun ist für mich einer von vielen Aspekten meines Lebens, die mir helfen, auf den Wellen des Alltags zu surfen und nicht unterzugehen.

Betreibst Du noch andere Kampfsportarten? Wenn ja, welche?

Seit ich Kinder habe, hat sich das etwas reduziert. Heute mache ich noch regelmässig Wing Chun und Schlagtraining, bei welchem man ganz schön an die Grenzen gehen kann. Früher trainierte ich regelmässig Karate, JuJitsu, Boxen, Krav Maga und Escrima.

Bestreitest Du auch Wettkämpfe oder hast Du welche bestritten?

Im Wing Chun gibt es keine Wettkämpfe und während meiner Fullcontact-Karatezeit habe ich nie daran teilgenommen, weil mir die Verletzungsgefahr zu gross war. Zudem reichten mir schon die Schmerzen im Training.

Warst Du selbst schon einmal in einer bedrohlichen Situation, in der Du die von Dir gelehrte Selbstverteidigung anwenden musstest? Wenn ja, hat es funktioniert?

Glücklicherweise kam dies in meinem Leben bisher sehr selten vor und die Situationen waren nie lebensbedrohlich. Während meiner Zeit bei der Securitas gab es kleinere Scharmützel. Manchmal kam es auch schon vor, dass ich an Wing Chun-Einführungen unvermittelt angegriffen wurde, wohl um zu sehen, ob das System funktioniert.

Es hat zum Glück immer funktioniert. Trotzdem fühlt man sich nachher eher schlecht, wenn man jemanden verletzt hat. Daher versuche ich eigentlich wenn möglich immer, defensiv zu reagieren und wehre mich erst, wenn mein Gegenüber sich anschickt, den ersten Schritt zu machen.

Wie viele Stunden pro Woche investierst Du in die Kampfkunst und betreibst Du auch noch andere Sportarten?

Für Wing Chun und Chi Gong investiere ich durchschnittlich etwa 4 bis 5 Stunden pro Woche. Dazu brauche ich rund 4 Stunden für mein Krafttraining und der Rest der Bewegungseinheiten setzt sich zusammen aus Spiel und Spass mit den Kindern oder Spaziergängen mit unseren beiden Hunden.

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Wie bringst Du Familie, Beruf und Sport unter einen Hut?

Seit ich Familie habe, hat sich mein Sportpensum schon etwas reduziert, aber ich möchte die Zeit mit den Kindern nicht missen. Zudem habe ich gerade im Bereich Sport gelernt, dass zuviel des Guten auch nicht unbedingt gesund sein muss.

Damit ich mein gestecktes Pensum aber trotzdem durchziehen kann, war ich gezwungen, mich gut zu organisieren. Ich habe deshalb mein Krafttraining so gesplittet, dass ich es an drei Tagen pro Woche und nötigenfalls auch einmal an aufeinander folgenden Tagen absolvieren kann. Ich mache das in der Regel anstelle des Mittagessens. Wing Chun und ChiGong trainiere ich regelmässig am Montagabend und mein wöchentliches Schlag- und Konditionstraining bewerkstellige ich an einem Abend nach 21 Uhr, wenn die Kinder schon im Bett sind. Zudem fahren wir Schulleiter einmal pro Monat zusammen nach Biel, um drei Stunden Privattraining bei unserem Lehrer zu geniessen. So schaffe ich es eigentlich sehr gut, alles unter einen Hut zu bringen, ohne dass ich zu Hause zu oft fehle. Natürlich trete ich dann aber bei Ausgang, Kino oder Ähnlichem etwas kürzer.

Warum denkst Du, dass Wing Chun für alt und jung gleichermassen gut geeignet ist?

Die Techniken des Wing Chun sind nicht alleine von Kraft abhängig, sondern versuchen, das Beste aus dem Körper, den ich zur Verfügung habe, herauszuholen. Dabei helfen die Formen, der Stand, die Prinzipien und der Winkel. Das heisst, die Formen lehren uns zum Beispiel, in welchem Winkel ein Arm am stabilsten ist.

Das Training ist so aufgebaut, dass jeder seine Grenzen selbst finden kann. Wenn wir als Trainer beispielsweise 50 Liegestütze vorgeben und ein Schüler bringt nur eine zustande, so ist das okay, wenn er sich bemüht hat und nachher nicht ins Quatschen abdriftet. Jeder soll sich mit sich selber vergleichen und nicht mit anderen. So erlebt er ein Erfolgserlebnis, wenn er dann plötzlich zwei oder drei Liegestützen hinbekommt, anstatt nur eine.

Beim Kämpfen gilt das gleiche Prinzip. Der Sanftere gibt jeweils die Härte vor und es wird niemand gezwungen, sich völlig zu verausgaben. Aber es ist für uns Trainer auch dann in Ordnung, wenn sich zwei Kampfbegeisterte wirklich Saures geben. All das hat in unseren Trainings Platz und es funktioniert sehr gut, zumal unsere Mitglieder diesbezüglich sozialkompetent sind.Kampf4

Zum 1. Teil: Wing Chun – Kampfkunst und Selbstverteidigung

 

(Bilder zVg.)

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Juerg Kurath

Redaktor Sport
Langjähriger Berichterstatter des Bündner Sports, der BZ und der SO. Aktiver, Trainer und Funktionär in Leichtathletik, Triathlon, Biken, Volleyball, Fussball, Korbball, Handball, Casting und Bob.

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