Wing Chun – Kampfkunst und Selbstverteidigung

Wing Chun – Kampfkunst und Selbstverteidigung

Juerg Kurath
05.05.2016

Auch im Kanton Graubünden ertüchtigen sich erstaunlich viele Personen bei der Ausübung einer fernöstlichen Sportart, wobei deren Unterscheidung für den Laien recht schwierig ist. GRHeute berichtet in einer zweiteiligen Serie über die Wing Chun Schule in Chur.

Fernöstliche Kampfsportarten und Kampfkünste, die alle Disziplin voraussetzen, werden in Chur durch verschiedene Schulen angeboten. Während beim Kampfsport Wettkampf, aber auch Fitness im Vordergrund stehen, wird bei der Kampfkunst, die traditionelle Stilarten mit gesundheitlichen Übungen und Selbstverteidigung etc. beinhaltet, das möglichst schnelle Besiegen des Gegners mit allen Mitteln angestrebt.

GRHeute hat mit Wing Chun eine dieser Stilarten herausgepickt, sich etwas intensiver mit ihr auseinandergesetzt, ein Training besucht und Mario Clavadetscher, einem der Schulleiter und Haupttrainer der Wing Chun Schule Chur, einige Fragen gestellt.

Trainings und ihre Inhalte

Das Montagstraining ist unterteilt in Chi Gong von 18:00 bis 19:30 Uhr und Wing Chun von 19:30 bis 21:00 Uhr, während im Donnerstagstraining, das um 20:00 Uhr beginnt, Wing Chun praktiziert wird. Selbst wenn es um Kampf und Selbstverteidigung geht, ist die Lernatmosphäre angenehm und entspannend. Die Trainings sind wie folgt aufgebaut:

1. Formen  

Die Formen sind das Grundmaterial für die Kampfsprache. Sie erweitern das Bewegungsrepertoire und fördern deshalb die Gesundheit. Neben der Kräftigung und Dehnung einzelner Körperpartien ist die Form auch ein Ort der Ruhe und Konzentration.

2. Selbstverteidigung

Von Anfang an wird eine effiziente und effektive Selbstverteidigung vermittelt. Spezialprogramme bieten eine Antwort auf die häufigsten Angriffssituationen und verbinden technische mit taktischen, rechtlichen und psychologischen Aspekten.

3. Chi Sao

Im Chi Sao – das auch das Herzstück des Wing Chun genannt wird – lernt man, seine Hände und Arme wie Tentakel zu benutzen, quasi blind und rein nach Gefühl.

4. Lat Sao

Lat Sao ist eine Art Kampfspiel, bei dem alle gelernten Techniken eingesetzt werden.

5. Schlagkraft

Mit Hilfe von Polstern wird die Schlagkraft von Faust, Hand, Ellbogen und Bein trainiert.

6. Chi Gong und Meditation

Kein Training ohne Entspannung am Schluss. Während Chi Gong für Ruhe und Gesundheit des trainierten Körpers sorgt, bringt Meditation den Geist ins Gleichgewicht.

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Was ist eigentlich Wing Chun? Woher kommt diese Kampfkunst bzw. woraus hat sie sich entwickelt und was ist typisch für diese Stilart?

Wing Chun Kung Fu: Realistisch, Kompromisslos, Gesund

Wing Chun – eine alte chinesische Kampfkunst im Kung Fu-Stil – ist eine raffinierte, realistische und kompromisslose Selbstverteidigung, die auch gesundheitliche Aspekte berücksichtigt.

Der Legende nach ist Wing Chun – ins Deutsche übersetzt schöner Frühling – der Name einer von zwei Frauen, die dieses Kampf- und Selbstverteidigungssystem aus ihren Erfahrungen im Training mit Mönchen des Shaolin-Klosters entwickelt haben. Das Selbstverteidigungssystem zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

Anpassung, das heisst ein Wing Chun-Kämpfer passt sich in Art und Intensität dem Angreifer an. Je kräftiger der Angriff, desto kräftiger die Abwehr. Gleichzeitigkeit von Abwehr und Gegenangriff bedeutet, dass Angriffsbewegungen gleichzeitig auch der Abwehr dienen.

Direktheit, das heisst der Wing Chun-Kämpfer geht dem Angriff entgegen, in den Gegner hinein und verzichtet auf artistische Techniken.

Grundsätze statt Regeln, das heisst in der Natur eines Kampfes entscheiden weder komplizierte Techniken noch starre Regeln. Das Wing Chun-System verfügt dabei über einfache Grundsätze:

vorgehen – in Kontakt bleiben – nachgeben – vorgehen

Gefühlsschulung vor Technik, das heisst die Techniken des Wing Chun sind nie Selbstzweck, sondern temporäre Krücken, bis es von allein geht. Ziel ist, den Kampf ganz dem Gefühl und dem Körper zu überlassen. Das ist kein esoterischer Akt, sondern das Resultat von Training.

Verbindung von Gesundheit, Kampf und Training, das heisst erklärtes Ziel einer intelligenten Selbstverteidigung ist es, gesund zu bleiben, wobei das auch im Training so sein soll. Wing Chun fördert also zusätzlich die körperliche Gesundheit.

Das Programm der Wing Chun-Schulung beinhaltet12 Schüler- und ebenso viele Lehrergrade.

Die Grundausbildung dauert – je nach Zeit und Engagement – drei bis fünf Jahre, wobei ein Schüler nach dieser Zeit zwei Formen kennt und gelernt hat, auf alle möglichen Angriffe zu reagieren. Nach und nach werden dann weitere Formen und somit ein Grundschatz an Bewegungen gelernt, die folgendermassen unterteilt werden:

Unter Siu-Nim-Tau (kleine oder junge Idee) werden dem Schüler alle Bewegungen vermittelt, die für den Kampf wichtig sind, wobei die Beine in fixem Stand bleiben.

Cham-Kiu (suchende Arme) kann mit Brückensuche (zum Angreifer) übersetzt werden. In dieser Form kommt die Beinarbeit dazu, da ein Angreifer nicht statisch ist, sondern sich ebenfalls bewegt.

Auch sollen die Pläne des Angreifers erkannt und zum eigenen Vorteil umgemünzt werden.

Biu-Tze (stechende Finger) wird einige Zeit nach der Grundausbildung gelernt und dient als dritte waffenlose Form der Verfeinerung. Sie besteht vorwiegend aus Angriffen mit Fingern, Handkanten, Fäusten und Ellbogen und berücksichtigt speziell Nahkampfsituationen.

Chi-Sao (haftende Hände) – das Herz des Wing Chun – ist die eigentliche Gefühlsschulung, bei der die Trainingspartner gegenseitig Hände und Arme berühren. So behalten sie bei den spielerischen Angriffen den Kontakt und können auf kleinste Druckveränderungen flexibel reagieren.

Häufiges Trainingsinstrument ist eine Holzpuppe, an der sich Schlagkraft, Koordination, Präzision und Schnelligkeit effektiv trainieren lassen. Waffen kommen heute im Gegensatz zu früher schon in der Mittelstufe zur Anwendung, wobei zuerst der Umgang mit Stock, Messer etc. vermittelt wird.

Prüfungen werden an der Wing Chun Schule Chur schon seit längerem nicht mehr durchgeführt. Es geht heute eher in die Richtung, dass ein Schüler, der die Grundstufe beherrscht, zuerst in die Mittelstufe und danach in die Oberstufe kommt. Jeder kann somit ohne Prüfung aufsteigen, wenn er schon reif ist für eine neue Stufe.

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Selbstverteidigung

Die Sicherheit im Alltag und in unserem Umfeld ist heute ein aktuelles Problem, zumal Gewalt und Brutalität scheinbar deutlich zugenommen zu haben. Wie aber geht man überhaupt damit um bzw. wie soll man sich in Bedrohungssituationen verhalten?

Realistische Selbstverteidigung ist kein Sport, weil sie nicht nach Regeln geführt wird, sondern nur nach Prinzipien der Natur. Das ist nicht nur biologisch, sondern auch mental gemeint, und genau darin ergibt sich die Chance, sich zu verteidigen. Es ist heute Bestandteil des Trainings, spielerisch auf Bedrohungen zu reagieren und in Notwehrsituationen einen kühlen Kopf zu bewahren.

Der sogenannte «weiche» chinesische Stil des Wing Chun bietet gerade auch für Frauen oder ältere Menschen eine wirkungsvolle Abwehr gegen Bedrohung und Gewalt, weil die Kraft des Angreifers aufgenommen und auf ihn zurückgeworfen wird. Das Training ist so aufgebaut, dass ein Anfänger einer Bedrohungssituation möglichst schnell etwas entgegensetzen kann. Es führt aber nicht dazu, dass man nun überall einen Angriff erwartet. Wer aber vorbereitet ist, kann eine Gefahr realistisch einschätzen, fühlt sich ihr nicht einfach ausgeliefert und weiss – sollte es hart auf hart gehen – wie er ihr entgehen oder sich angemessen verteidigen kann.

Chi Gong

Die Bewegungen des Chi Gong entspringen einer alten chinesischen Tradition.

Viele Kopf-, Rücken- und Gelenkschmerzen haben ihre Ursache in falsch trainierter, überforderter oder verkürzter Muskulatur. Chi Gong ist Heilen durch Bewegung und stellt das Gleichgewicht der Muskulatur wieder her.

Die wichtigsten Chi Gong-Bewegungen sind in den Wing Chun-Formen enthalten. Das hängt damit zusammen, dass die alten chinesischen Kampfkünste immer auch die Gesundheit im Auge hatten.

Das reine Chi Gong-Training an der Wing Chun Schule Chur beinhaltet folgende Schwerpunkte:

Körper- und Muskelübungen

Mit speziellen Einzel- und Partnerübungen werden die Muskeln auf Länge trainiert, was hilft, das Gleichgewicht in der Muskulatur des Körpers wieder herzustellen.

Atemübungen

Mit Hilfe verschiedener Atemübungen wird die Atemmuskulatur trainiert, damit der Körper im Alltag, aber auch in Stresssituationen mit genügend Sauerstoff versorgt wird. Die Vollatmung trainiert den ganzen Atemumfang und massiert die inneren Organe, während die Bauchatmung ein wirksames Werkzeug zur Beruhigung darstellt.

Achtsamkeit

Achtsamkeitsübungen werden heute als Strategien zur Bewältigung von Stress eingesetzt, können aber auch bei gesundheitlichen Störungen unterstützend helfen.

Autogenes Training

Autogenes Training ist ein bewährtes und effizientes Entspannungstraining, wobei das Training der Entspannungsreaktion beim Chi Gong im Mittelpunkt steht.

Druckpunktmassage zur Schmerzlinderung

Druckpunktmassage kann einen irritierten Muskel entspannen und den Schmerz lindern.

Meditation/Achtsamkeit

Meditationen, deren positiven Effekte auf Körper und Geist wissenschaftlich nachgewiesen sind, kommen in praktisch allen Religionen vor. Dabei nimmt die Achtsamkeitsmeditation, die nicht eine tiefe Geistesruhe als primäres Ziel anstrebt, sondern den Geist soweit entwickeln möchte, dass er die Dinge so sieht, wie sie wirklich sind, einen besonderen Stellenwert ein.

An der Wing Chun Schule Chur lässt man zur Achtsamkeit unter anderem Beobachtungsübungen aus der Sitz- und Gehmeditation ins Training einfliessen. Einerseits als Konzentrationsschulung, um die Techniken sauber zu lernen und in der Selbstverteidigung achtsam und reaktionsschnell zu sein. Und anderseits ist Meditieren auch eine Möglichkeit, um zufriedener und gesünder zu leben.

Fazit

All diese Ausführungen machen deutlich, dass nicht nur die angebotenen Trainings sehr lehr- und abwechslungsreich, sondern auch die angestrebten Ziele äusserst komplex sind und deshalb eine echte Herausforderung darstellen. Trotz aller Vorkehrungen gilt aber nach wie vor der Leitsatz: Der beste Kampf ist der, der gar nicht erst geführt wird!

 

Morgen Freitag der zweite Teil der Kampfkunst-Serie – das Interview mit Wing-Chun-Trainer Mario Clavadetscher.

Mehr Infos unter www.wt-chur.ch.

Zum 2. Teil: Interview mit Mario Clavadetscher

 

(Bilder: zVg.)

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Juerg Kurath

Redaktor Sport
Langjähriger Berichterstatter des Bündner Sports, der BZ und der SO. Aktiver, Trainer und Funktionär in Leichtathletik, Triathlon, Biken, Volleyball, Fussball, Korbball, Handball, Casting und Bob.