Panaschierte Stiefgeschwister

Panaschierte Stiefgeschwister

Panasch tränken nur Weicheier, sagten einst meine Kollegen. Es waren dieselben Mannen, die später jeweils am Samstagabend völlig übermüdet läppische Heldengeschichten aus der Rekrutenschule erzählten. Beides glaubte ich nicht, schwieg und bestellte. Später bestellten einige der Jungs bei mir – Panasch. Ich war am Wochenende meiner Untauglichkeit geschuldet als bodenstationierter Saftschubser im Stundenlohn tätig. Ein Verzweiflungsengagement im freien Arbeitsmarkt. Der Job brachte kaum Geld, allerdings wertvolle Erfahrungen. Eine davon bezieht sich auf das korrekte Herstellen eines Panaschs. Also: In das saubere, ausgespülte Stangenglas kommt erst ein Drittel Zitronenlimonade, dann sorgfältig eingefüllt zwei Drittel Lagerbier ab Zapfsäule. Dabei vermischen sich die beiden Flüssigkeiten so, dass man anhand der sich bildenden Schlieren die einzelnen Bestandteile teils noch erkennen kann. Wenn es gut kommt, gibt es ein Schaumhäubchen, vier Franken fünfzig und ein mitleidiges «passt schon so!» des Gegenübers mit dem Fünfliber. – Danke.
Dieses zögerliche, schlierende,lavalampenartige Vermischen der Flüssigkeiten erinnert mich an Schule und Soziale Arbeit. Der deutsche Pädagoge Andreas Mehringer hat die beiden einmal als Stiefgeschwister bezeichnet, welche die moderne Welt wieder zusammenführe. Er bezieht sich auf die historische Tatsache, dass Schulpädagogik und Sozialpädagogik lange vor der Einführung der Schulpflicht gemeinsame Sache machten und erst durch die Professionalisierung der Schule auseinander drifteten. Wahrscheinlich waren die Tätigen in den Arbeiter-, Fabrik- und Armenschulen des 19. Jahrhunderts gut beraten, Bildung und Soziales ungeschieden als eines zu begreifen. Alles andere hätte wohl kaum funktioniert.
Zeitsprung: Die Schulsozialarbeit trifft in der Schweiz Mitte der Neunzigerjahre auf die Schule – nicht zuletzt auf deren Wunsch hin. Sie entwickelt sich in mancherlei Kantonen der Deutschschweiz prächtig. Nach Graubünden kommt sie später, gedeiht da erst auch ganz gut. Heute dünkt mich die Entwicklung eher schleichend vonstatten zu gehen oder gar am vorläufigen Ende angekommen. Meine Nachfrage bei der Bündner Sektion des Berufsverbands Avenir Social, wie es um die Schulsozialarbeit im Bündens Tälern bestellt ist, endet abrupt. Deren Homepage ist derzeit offenbar nicht erreichbar. «Error», meldet der Bildschirm. Solche Webseiten haben den Charme modernder Komposthaufen. Ich gebe den Versuch auf. Das wahre Leben ist sowieso besser als die Netzrecherche und so erinnere ich mich an meine Zeit als aktiver Schulsozialarbeiter. Die Berufskunst ist eigentlich jener der Herstellung eines guten Panaschs sehr ähnlich. In der gegebenen Struktur geht es darum, sich mit der Schule geschickt zu vermischen, ja manchmal in ihr nahezu unsichtbar zu werden um ergänzend dazu – ähnlich den beschriebenen Schlieren im Glas – dann doch wieder als «das Andere» erkennbar zu bleiben. Im Gesamtaufritt muss das dann eine stimmige Sache geben. Das erfordert entsprechendes Personal. Und – unter uns – viel Selbstironie.
Die Schule von heute ist gut beraten, wenn sie sich die Kompetenzen der Sozialen Arbeit ins Haus holt. Anders: Sie wird Mühe bekunden, ihren komplexen Auftrag zukünftig zufriedenstellend zu erfüllen. Das hat etwas mit ihrer ureigenen Logik zu tun, welche sich durchgesetzt hat. So fokussiert die Schulpädagogik auf Wissen und Leistung und muss deshalb zwangsläufig Auslese betreiben. Die Sozialpädagogik hat Integration im Sinn, nicht die Selektion. An exakt dieser Grenze ist eine Soziale Arbeit gefragt, welche ohne Noten zu vergeben Bildung im Sinn hat, befähigt, berät: Aufruf zum gemeinsamen Bildungsauftrag der beiden Stiefgeschwister!
Der Erfolg der Schulsozialarbeit ist nicht nur herbeigeredet. Wer sich aber überlegt, in der eigenen Gemeinde erstmal ein Minipensum zu schaffen, soll es lieber sein lassen. Das funktioniert nicht. Oder würden Sie sich von jemandem beraten lassen, den sie erstens nicht kennen, weil sie ihn zweitens nie sehen und ihm deshalb drittens nichts erzählen, weil ihnen viertens eingetrichtert wurde, dass man Fremden nichts Privates anvertraut? Schulsozialarbeit ist Beziehungsarbeit. Und die kann sie leisten, wenn sie präsent ist, vor Ort ist, da ist. Zu hoffen bleibt, dass die Schulsozialarbeit in Graubünden weiter Fuss fasst. Es ist verdächtig ruhig geworden um die junge Disziplin. Wo ist das pionierhafte Engagement der frühen Tage geblieben? Wo sind die FürsprecherInnen der neuen funktionierenden Bündnisse? Wo die wachen Profis, die über ihr Wirken berichten könnten?
Der modernden Webseite des Berufsverbandes wünsche ich ein rasches Frühlingserwachen. EKUD, AVS und SOA eigene Ideen, wie dem Artikel 40 des Schulgesetz es Leben eingehaucht und Gestalt verliehen werden könnte; beim Brainstorming wild Ideen zu panaschieren, wäre vielleicht ein Anfang. Und den bestehenden Stiefgeschwistern wünsche ich erbauende Begegnungen im familialen Gefüge.
PS: Gestresst? Tupfen Sie sich den Schweiss der Woche mit einem vorgewärmten Feuchttuch aus usbekischer Baumwolle von der Stirn und jonglieren Sie dazu mit Kurut-Bällchen auf einem Bein stehend: das hilft, garantiert.
(Symbolbild: Unsplash)
Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.