BÜNDNER PERLEN: «Marcus Aurelius – Schwiizophren» (2010)

BÜNDNER PERLEN: «Marcus Aurelius – Schwiizophren» (2010)

Hin und wieder gibt es Platten aus Graubünden, die nie eine grosse Medienaufmerksamkeit erhalten haben oder vielleicht schon in Vergessenheit geraten sind. Dieses neue Gefäss, exklusiv auf GRHeute, wühlt durch alte LP-Kisten, entstaubt CD-Sammlungen und widmet grossen Werken eine kurze, aber ausführliche Plattenkritik mit einem gehörigen Schuss Nostalgie.

Einerseits zur Erinnerung, anderseits zur Aufstockung jeder Tonträgersammlung, aber vor allem um aufzuzeigen, welch vielfältige Bündner Musikszene wir doch haben. Diese Perlen dürfen in keiner kompletten Bündner Musiksammlung fehlen. Willkommen zu den Bündner Perlen.

Ich lernte Marcus Aurelius durch seine Tätigkeit bei der Flimser Rapcrew Beatcrackers kennen. Rasch wurde ich Fan vom einen Teil des Kollektivs. Bald pflegten wir regen Austausch miteinander und er gab mir auf Bock uf Rock Vol. 3 dann prompt auch einen exklusiven Track mit dem passenden Titel «Kai Bock uf Rap». Dies war 2010, im gleichen Jahr als sein Debüt «Schwiizophren» erschien. DaMos und er waren Rapper, die ich einfach genial fand. Die beiden Sprechgesangskünstler verleiteten mich danach mit Bock uf Rap eine neue Serie aus dem Boden zu stampfen. Diese war dann sogar noch ein wenig erfolgreicher als Bock uf Rock. Doch um das geht’s hier ja nicht.

Aurelius hielt mich auf dem Laufenden, wenn es um sein Debütalbum ging und ich war nicht nur Fan, sondern verschaffte ihm auch einige Konzerte in der Gegend. Das Album durfte ich recht viel vorher hören und ich war total geflasht.

Eine lustige Anekdote muss ich hier doch noch in den Raum werfen: Kurz vor dem Release der Platte fragte mich Aurelius, ob ich am Sonntagnachmittag eventuell auch Zeit hatte. Am Abend zuvor hatte er in der Reflexx Lounge in Buchs gespielt, anlässlich eines Bock uf Rock-Events und ich übernachtete bei ihm in Chur, da ich zu dieser Zeit nicht mehr nach Hause nach Jenaz fahren konnte. Es war ein grossartiger Event am 11. September 2010, es spielten neben ihm auch noch Varyan und Headache und ich verliebte mich an diesem Abend Hals über Kopf in eine Klassenkollegin. Aus dieser Romanze wurde dann leider nichts, aber die Freude an der Musik blieb.

Eben nach dieser durchzechten Nacht gingen wir nach Domat/Ems. Es war so, dass bei der Grafik ein Bock passiert war und wir (Blaubär, Aurelius und Ich) alle Inlays auswechseln mussten. Zu diesem Zweck gingen wir zu José Federspiel, der den meisten eher als DaMos bekannt sein dürfte. So lernte ich nicht nur meinen neuen Grafiker persönlich kennen, es war auch ein weiteres Prelistening des Albums angesagt, ich erfuhr viele kleine Details zur Produktion und sog alles wie ein Schwamm in mich auf. Denn ich wollte bald auch mal ein Soloalbum veröffentlichen und hier konnte ich von zwei Grössen etwas lernen. Unvergessen bleibt dieser Nachmittag auch, weil mir DaMos damals sein Debüt «Kaosforschig» schenkte. Diese habe ich seit her nirgends zum Kaufen gefunden. Deshalb hat diese EP für mich einen unschätzbaren Sammlerwert.

Es lag bei diesem Album eine Aufbruchsstimmung in der Luft. Die Videos waren bereit. Die Featuringgäste epochal. Die Beats von Blaubär perfekt. Die Produktion von Lou Geniuz wie immer grandios. Die Raps von Aurelius schnell und komplex, jedoch auch voller Emotionen und Ohrwurfcharakter. Das musste einfach charten. Das waren sich alle bewusst und doch irgendwie schoss es nicht hoch in die Hitparade, was mich bis heute recht verwundert.

Andererseits wäre es damals in die Charts geschossen, hätte ich heute nicht die Möglichkeit darüber als Perle zu berichten. Hören wir nochmals rein in das Werk, welches mich lange Zeit intensiv begleitet hat.

Das «Kurt Kokain Intro» fand ich irgendwie schon zu Anfang überflüssig. Er, als grosser Kurt Cobain – und Nirvana – Fan erfand so sein Alter Ego. Deshalb und weil das Album «Schwiizophren» hiess, gab es gleich zwei Intros. Speziell, aber dies gibt es sonst nicht.

Das zweite Intro mit dem Titel «Marcus Aurelius Intro» zeigt dann auch gleich in welche Richtung das Album gehen wird. Pöbelnd und doch technisch versiert, spittet Aurelius auf dem Introtrack härter als Andere auf einem kompletten Album.

Die Vorstellungsrunde geht weiter auf «Hallo Schwiiz». Spätestens nach dem Track stellt er seine Flimser Herkunft und seinen Platz auf dem Schweizer Rapthron klar. Feinster Battletrack mit ziemlich witzigen Metaphern und einem epischen Beat aus Blaubär’s Küche.

Auf «The Saga continues» feat. Olli Banjo begrüsst er seinen ersten Gast. Banjo wurde schon auf der Beatcrackers CD gefeaturet. Hier geht eben die Saga weiter. Die Hook von Lou Geniuz kam zu einem ziemlich ungünstigen Zeitpunkt heraus. Da auch Eminem kurz zuvor die gleiche Idee wie Aurelius hatte. Die Rede ist von «What is love» von Haddaway, das hier berappt wurde. Pech, doch der Track ist heute noch ziemlich frisch und sehr gut geeignet zum Kopfnicken.

 

«Ein Versuach» ist der Hit der Platte schlechthin. Ein Rückspiegelblick auf das bisherige Wandeln auf dem Planeten wird zu einer persönlichen Nummer, die Jeden und Jede betrifft und ganz tief ins Herz geht. Nur schon die wahnsinnigen Klickzahlen dieser Nummer zeigen, dass bei dieser Nummer alles richtig gemacht wurde. Hit!

In die selbe Kerbe schlägt «Generation X», der den Lifestyle der Jugend von heute ziemlich gut auf den Punkt bringt. Arbeiten zum Leben, anstatt Leben zum Arbeiten. Viel mehr muss man da nicht hinzufügen, denn der Raptrack zeigt ein Zeitdokument aller Jugendlichen, von Lehrabbruch über Probleme mit Autoritäten bis zu dem falschen Bild, dass die Erwachsenen von den Jungen haben. Sehr treffend beschrieben.

«Wenn dr Himmel brüallt» nimmt ein episches Kirchen-Sample als Grundlage für einen düsteren Blick auf die aktuelle Weltlage. Das ist Sozialkritik pur ohne den Mahnfinger zu heben. Vielfach denken die Meisten, Battlerapper hätten nichts zu erzählen, doch hier wird man eines besseren belehrt. Die Hook von Blaubär nimmt einem mit direkt zu den düsteren Bildern. Grosses Kino!

Auf dem «Goldmusik Skit» nimmt Aurelius den Volksmusik-Rapper Bligg auf’s Korn. Zum Glück unterbricht ihn Lou Geniuz bevor es total ausartet.

Auf «Eigani Liga» zeigt Aurelius, was er eigentlich auf dem Kasten hätte, wenn es um Geschwindigkeit geht. Die erste Strophe des Schnell-Rap-Abenteuers erfuhr durch die Teilnahme von ihm beim Online-Format «Din 16er TV» einen enormen Popularitätsschub.

Auf «Epiphanie 2» steigt Orange mit ins Boot und rappt gemeinsam mit Meisser über Depressionen im Alltag und das Nichtklarkommen in der heutigen Gesellschaft. Die zwei passen ziemlich gut zueinander, weil sie beide relativ hart rappen und durch das die Glaubwürdigkeit sehr hoch ist.

Dann folgt mit «Lon di go» der Rest der Liricas Analas und es wird ein Rapfeuerwerk gezündet. Sehr gelungen, wie schnell und on point alle rappen. So ein richtiger Track zum sich Gehenlassen. Cool.

Dann folgt wieder mal ein Skit, aus dem Film «300», nämlich das «Freiheit Skit». Hier wird klar, dass Aurelius seine Musik für die Liebe zum Spiel und für die Menge produziert.

«Mis Leba» ist der Remix vom Blaubär Hit «My Life». Ich finde die Version hier, die am besten Gelungene. An der Gitarre hört man hier den Churer Benjtaro. Coole Idee, den Song nochmals neu aufzulegen und in einem noch grösseren Hit zu verwandeln.

Auf «Meditation» paart sich Aurelius mit SBS und Lou Geniuz und spricht sich offen gegen die Konsumgesellschaft aus. Sehr frische Nummer vor allem durch den zurückgelehnten Refrain von Lou und den grandiosen Part von SBS. Immer wieder hörenswert zur Entspannung.

Den Track «Musik» feat. Breitbild hätte ich persönlich verfilmt. Nicht nur wegen des Hypes, sondern weil das Lied eines der grössten Featurings des Kultkollektivs bis heute ist. Eine Hymne auf den Bündner Rap und wie vielseitig das Thema von unterschiedlichen Perspektiven angegangen werden kann. Vali ist Gott, Aurelius das grosse Talent, Andri Perl ein Dichter und Denker und Hyphen einfach ein epischer Featuringpartner. Wenn es einen Rapsong gibt der die Stärken der Crew Breitbild genau auf den Punkt bringt, dann ist es genau dieser hier. Hier kommen gute, metaphernreiche Parts, die Aurelius mit seiner eigenen Note umrahmt. Wenn es noch etwas gibt, dass ich in diesem Leben noch erleben möchte ist es, einen solchen Track mit Breitbild zu produzieren. Man darf ja noch träumen.

«Dia totali Schwiiz» ist nach den drei Highlights zuvor ein eher schwacher Track, der aber trotzdem noch ähnlich funktioniert wie «Hallo Schwiiz».

Auf «Was wäri wenn» greift Marc Meisser dann nochmals tief in die Trickkiste und formt in feinster Storytellingmanier eine schöne Geschichte auf den grossartigen Beat von Hitzhits und Lou Geniuz. Vogelfrei fühlt man sich beim Hören dieses Tracks, den ich weiter vorne auf der CD platziert hätte, da er sich nicht verstecken muss hinter «Ein Versuach».

Campino von den toten Hosen eröffnet seine grosse Ode an seine Mutter Esther «Stolz uf di». Ein Geschenk, dass jeder Musiker seiner Mutter einmal machen sollte. Wunderbar gelungen und voller Gefühl.

«Kei Bock uf Rap» ist eben der Track, der auf Bock uf Rock 3 für Furore gesorgt hat, da sich Aurelius sein Maul nicht verbieten lässt. Doubletimemässig auf hohem Level und mit einem lustigen Schluss. Comedy, die nicht blöde ist und auch heute noch sehr viel Spass macht.

Über den «Graubünda Monster RMX» feat. GR-Allstars muss man keine Worte verlieren, der spricht für sich. Hier zum erneut anschauen:

Schlusswort:
Marcus Aurelius hat mit «Schwiizophren» ein Debütalbum auf die Beine gestellt, das alle andere Rapalben für einen Moment kurzerhand in den Schatten gestellt hat. Die ganze Promophase, die Gäste, die Videos, die Abwechslung auf den Tracks und so vieles mehr macht das zu einem immer wieder gern gehörtem Rapalbum, das als Zeitdokument unverzichtbar ist. Der rote Faden durch alle Lieder macht das 20-Track-starke-Album heute noch spannend, den es verfällt niemals einer Lethargie oder schmeisst gar mit Füller-Tracks um sich. Das grossartige musikalische Konzept von Lou Geniuz, Blaubär und Marcus Aurelius wird von der epischen grafischen Gestaltung von DaMos nochmals auf ein anderes Level gehoben.

Randnotiz:
Man muss Marcus Aurelius persönlich nicht unbedingt mögen, da er ein Charakter ist, der sehr stark polarisiert. Aber wenn nur die Musik spricht, stimmt auf diesem Album doch einiges. Ein Interview im letzten Jahr mit ihm hat viele negative Kommentare nach sich gezogen, weshalb ich hier gleich vorab an die Pressefreiheit appelliere und darauf hinweise, dass es meine Aufgabe ist, möglichst die komplette Musikszene Graubünden abzubilden. Ich distanziere mich von dem Streit, den es nach dieser CD in der Musikszene gegeben hat und zeichne das Bild vor der Produktion. Let the music do the talking.

author

Chris Bluemoon

Redaktor Kultur
Hauptberuflich Radio-Journalist mit viel Leidenschaft für die Musik, die Poesie und das ganz grosse Chaos.