Staldereien: Von der Guerillapolitik zum Lokalestablishment

Staldereien: Von der Guerillapolitik zum Lokalestablishment

Ich war damals enttäuscht: Das Büro des Herrn Stadtrat kam so unaufgeregt daher, fast unanständig unangemessen für einen Mann dieses Schlags. Stilfrei und furchtbar unaufgeräumt. Das Treffen ereignete sich vor exakt sechzehn Jahren. Stickig die Amstluft. Und juniheiss. Im Zuge der Gemeinderatswahlen 2004 empfing uns Genosse Jäger, wohl gedacht als grosszügige Geste, quasi auf Augenhöhe, so meinte ich; es sollte alles anders kommen. Nach kurzem Wortgeplänkel die Wahlprognose des nahbaren Politdinos: ein zweiter Sitz unmöglich. Den bestehenden halten? – nur vielleicht. «Es wird eng, macht euch keine grossen Hoffnungen.» Er begleitete uns zur Türe und würdigte lächelnd das politische Engagement der Jünglinge. Ein Gefühl, als wäre mein zu Besuch bei alten Tanten. Die Gesandten der Freien Liste Chur die wir waren, zwei Kandidaten auf den hintersten Listenplätzen, Füllware,  wir liessen uns auf dem Weg nach draussen nichts anmerken und schlenderten über den Kornplatz. Zwei Dosen später, in der weit herum bekannten Minibierbeiz, war es immer noch still. Erste Schritte auf dem politischen Parkett der Stadt und schon den Groll im Ranzen. Noch fern das eigene Positionspapier, keine einzige Stimme im Sack.

Am 24. Oktober 2004 war die Welt wieder Ordnung, die jungen forderten die Etablierten mehr als heraus, wirbelten Sie durch deren eigenen Politkosmos, als wär die Rathaushalle ein riesiger Tumbler. Erfreuten sich ob der langen, grauen Gesichter, der versteckten Missgunst und dem zähneknirschenden Gratulationen im Blitzlicht. Jubel im Gansplatz, feiern im Welschdörfli; Chur an einem Sonntag, laut und ungemein progressiv – bis spät in die Nacht. Als wäre das kleine Städtchen endlich erwacht. Als hätte sich die politische Starre in den langweiligen Chur-Neunzigern in diesem einen Moment wuchtig entkrampft. Zwei Sitze, den alten Mannen aus dem Untergrund vor der Latz geknallt!

Dem politischen Verein mit chaotischen Strukturen und den jungen Wilden, schwadronierend im Sääli des Restaurant Gansplatz – nur vorübergehend! –, gelang in diesem Moment die Miniaturrevolution. Vom Landboten bis zur NZZ, alle berichteten über die Wahl! Churer Politik als eidgenössische Schlagzeile. In der Luzerner Vorlesung predigte mein Soziologe Dutschke, Lennon wispernd im Discman. Ich blätterte müde im Bündner Tagblatt und glaubte Momente an eine neue Zeit.

Schneller als die landesweite Berichterstattung abklang wurden die in die Politmühlen der ältesten Stadt geratenen neuen Kräfte zurecht gestutzt. Einzig, wie grossmundig versprochen, beim «Jugendhaus» machten einige Schlitzohren der Freien Liste Chur schnell Nägel mit Köpfen, jetzt bei Schällibaum im Drei Könige, neben den Cornflakes des Frühstückbuffets bis Mitternacht fraktionierend, schon leicht gespalten, den gesamten Gemeinderat eben mal mit einem Politmanöver erster Güte ausgespielt.Buabatriggli. Die Stadt Churer Jugendarbeit steht heute noch, wo sie da einst hingedacht wurde. Bald wirds ruhiger, die Finanzkrise der Stadt erstickt die letzten Zuckungen der Jungen, das Aufbegehren – vorbei. Nur der Flaschenöffner aus den eigenen Reihen wird mal eben Stadtrat.

«Sehr Chur» ist heute die Freie Liste Verda, sie setzt geordnet und brav an zum neuen Wahlkampf. Kuriosum: Die meisten FLC-lerInnen werden ihre eigene Vereinshistorie nicht kennen. Sie ist weitaus greller, als der neonleuchtende Wahl-Schriftzug der unterdessen etablierten politischen Kraft. Ihre Akzente hat sich das Trüppchen damals im Churer Nachtleben gekrallt, zumeist in Lokalen mit dem «Sehr-Chur-Slogan» ähnelndem, neonleuchtenden Glanz. Vielleicht erinnert sich die nicht mehr ganz so freie Freie Liste ihrer Gründertage – es wäre ihr mit Blick auf innovative Stadtpolitik zu wünschen. Hoffentlich aber – versteht Freunde –  keimen im Untergrund bereits neue Zellen, um bald unerwartet, unerwünscht, unverhofft das Rathaus aufzumischen. Wirbelt, junge ChurerInnen – shake up the status quo!

PS: Die Staldereien werden zur Sömmerung in die Ferne getrieben, zwecks Bestossung südlicher Lande. Der Talbetrieb darf in absentia auctor unterdessen das Futter für neue Geschichten schaffen. Bis die Tage.

(Bild: Pexels/ GRHeute)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.