Staldereien: Barfüssige Grüsse aus Teheran

Staldereien: Barfüssige Grüsse aus Teheran

Es ist schon verrückt: Während meine Naherholungsgebiete zu einer stacheldrahtbehüteten Kriegsfestung umgebaut werden, hampelt der Nasengeist über den heimischen Bildschirm. Während selbstgefällige Experten ebendort die barbarischen Interventionen des Westens im Nahen Osten verteidigen, erfreue ich mich an den WhatsApp-Nachrichten eines sympathischen Teppichhändlers in Teheran. Im Hintergrund plappern Kliby und Caroline, hoch oben dröhnt eine rostende Hornet. Fünfzehn Seiten stutdentische Seminararbeit vor mir versuchen engagiert, Machtstrukturen dialektisch aufzulösen. Der Espresso steht nur da. Die Gleichzeitigkeit der Dinge ist Fluch und Segen zugleich. Ich will raus. Schlittschuhlaufen, im grünen Wald, in kurzen Hosen. Ich, die Natur und folgsame Schweizer Soldaten im Schatten des Vorderprättigaus. Hier wird die Sonne erst wieder scheinen, wenn der Spuk vorbei ist und andere Gleichzeitigkeiten unseren Alltag bestimmen.
Die Riesen packen ihre Koffer für das grosse Treffen, den mächtigen Gipfel in den Bergen. Mattos Lingovistaphon hat dazu mal ein eingängiges Lied durch den Schalltrichter geschmettert: «Du khasch mi nid ässa, i bin an Event». Der Song des unbequemen Bündner Kunstschaffenden Reto Mathis hat Boden. Musikalisch gutes Handwerk mit diesem typischen Mathis’schen Pianoschlirk. Inmitten des Wirrwarrs, da wie dort, hüben wie drüben, frage ich mich, welch solides Fundament da dieser Tage uns Europäern fehlt. Befinden wir uns in einer veritablen Krise? Wer sind wir? Was gilt noch?
Als hätten die Götter Kenntnis von meinen Verstörungen, obzwar ich ihnen abgeschworen habe, schicken sie oder der Himmel mir des Robert Saitschicks hundertjähriges Büchlein: Die geistige Krise der europäischen Menschheit. Eine in die Zeit hineinleuchtende Betrachtung. Die Seiten riechen streng antiquarisch, drohen bei jedem Umblättern in Staub zu zerfallen. Der Schriftsatz erstaunlich modern, die Gedanken durchdringend scharf, wechselnd verständig. Würde das Buch nicht durchdringend riechen, hielte ich des Schreiberlings Worte für aktuell Zeitgeistiges. Die Menschheit, sie strebe nicht nach irgendwelchen Formen gesellschaftlichen Lebens, sondern nach Verwirklichung geistiger Forderungen, «die unsichtbar hinter den Ereignissen vernehmlich sind». Ich könnt den Typen dafür knuddeln. Das hat doch was, nicht? Sind wir nicht müde ob der Parolen, der Inhaltsleere, der falschen Erzählungen? Schimmern die Dinge dahinter nicht längst erkennbar durch?
Ich blättere um. Die nachfolgenden Seiten sind fehlerhaft gebunden, der Text leuchtet dennoch hundert Jahre durch die Zeit. Der hier vorliegenden Zeilen werden dies nicht tun, werden kaum je die Nase kitzeln, die im 2020 angekommene Leserschaft vielleicht aber zur Eigendenke anregen. In gesunder Distanz von gebannten Systemdenkern, starren Theologen, trügerischen Menschheitsbeglückern und unfreier Parteidoktrin, wie es Saitschick ausdrücken würde.
Vielleicht kommen wir ja selbsttätig aus der geistigen Krise. Das Smartphone bimmelt. Gleichzeitigkeit. Ich muss dem stylischen Barfussmann mit 70er-Jahre-Retro-Schnauz meine definitive Teppichbestellung nach Teheran texten: Die Überwindung konstruierter Wirklichkeiten gelingt ja vielleicht am ehesten in der konkreten Begegnung. Menschen mit Menschen.

PS: Der Milchschäumer der bekannten Marke aus Funk, Fernsehen und Flüchtlingshilfe zaubert köstlichen Schaum! Nur, wie putzt man das Ding? Clooney, was sagen Sie dazu?

(Bild: Pixabay)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.