Staldereien: Khuur National

Staldereien: Khuur National

Dreihundertsiebzehn Schritte. Vom zentralen Platz bis zur heiligen Halle am oberen Ende der Poststrasse sind es dreihundertsiebzehn Schritte. Dazwischen die üblichen Ausweichmanöver in der breiten Strasse, die durch die eng denkende Stadt führt. Da und dort ein „Moinz!“. Wer sich einsam fühlt, läuft am besten tagelang auf dieser Einflugschneise ins Herz der alten Stadt. Wie Indermaurs «Orbiter», nur mit kleineren Schritten und bodennäher. Im linken Augenwinkel das neue Brillengeschäft, wo einst Globus die Herren ins rechte Gewand beriet. Einzelne Schatten huschen ums Eck. Kleinere Tannen, fast so grosse Shishas und der riesige Frisörsalon für die süd-ost-europäische Standardfrisur säumen den Weg. Unter mir rauscht der Mühlbach. Mehr klingt an diesem noch graukalten Mittwoch nicht an.

Am Morgen der Bundesratswahlen ist Churs Bierhalle, eine Wandelhalle der anderen Art, noch geschlossen. Hier treffen die Parlamentarier des Volkes – Abgeordnete des Prekariats und Gesandte aus den Niederungen des Alltags – erst gegen 16 Uhr ein. Im ehemaligen Restaurant «National» (wie passend doch der Name!) wird seit Jahrzehnten getagt. Die Sitten sind andere, Tische und Bänke wüssten vieles zu erzählen, schweigen aber sittsam. Eintreten. Zielsicher zum immer gleichen Tisch. Der Becher Bier der Hausmarke findet den Weg rasch zu mir, die kritischen Blicke der Stammgäste ebenfalls. «A fremda Fötzel». Das war nicht immer so. Ich erinnere mich fragmentartig an vergangene Stunden in diesem Raum: schweissnass, schrill, wahrnehmungsverändert. Diskussionsfetzen und abgestandenes Bier. Einmal, an einem Sonntag – jenem Tag, an dem der Khuurer sich üblicherweise versteckt, die Strassen der Stadt nur notfalls begeht – forderte mich die stämmige Ruth aus Molinis überraschend kontakfreudig, fast gierig, zum Tanz. Nie mehr danach hat mich eine Dame derart gekonnt zu treibendem Schottisch über abgewetzte Bodenbretter geschleudert. Feste umfasste ihr Griff meine Hüfte. Hätte ich damals «Ja!» gesagt, ich lebte heute im Schatten des Schanfigg, an den Gestaden der jungen Plessur. Schafe hütend. Als des Ruthlis Knecht: im Stall, im Bett, zu Schottisch getrieben in die Bierhalle. Frühschoppen.

Meinem schwachen Magen oder dem Urs, einem von hier, habe ich zu verdanken, dass alles anders kam. Ruthli und ich verloren uns noch in der Schenke aus den Augen, schief die Klänge der müden Klarinette. Hoppsassa im Dreivierteltakt. Partnerwechsel. Weg war sie. «Schatz, schenk miar a Kaabishobel, denn hürooti di!», sang spöttelnd der Urs.

Auf der etwas ausserhalb, unterirdisch angelegten Herrentoilette beginnt das Eintauchen in die Debatte des Tages. Viele volle Blasen überbrücken die Wartezeit. In Diskussion. Keineswegs politikmüde Menschen, denen allerdings die Posts der neu gewählten Bündner NationalrätInnen tierisch auf den Keks gehen. Gespräch über Regula und Ignazio. Über die ausbleibende Überraschung und anhaltende Hoffnungen. Erneuerungswahlen, die keine waren. Längst erkannt an diesem Ort. Der Reissverschluss klemmt. Die Seife fehlt. Y.* (*Vorname mir noch vage bekannt, Duzis seit 16:32 Uhr Ortszeit, mittels Handshake am Pissoir besiegelt), hat in mir einen Diskussionspartner gefunden. Die feuchte Aussprache lässt mich zurückhaltend agieren. «Waisch, as sötten alli am gliicha Strick zühaa, ni!», sagt er zurück am Tisch. «No zwai Piar». Der Nachmittag, er fühlt sich an wie spät abends. Wann kippt dieses Empfinden eigentlich? «Ah, tengg au!», räumt einer ein. Spricht aber nicht weiter. – Manche Dinge bedürfen an diesem Ort nur weniger Worte. Bald drehen wir uns im Kreis. Zwei ältere Semester schunkeln zu abgedämpftem Schlager. Neckisch, manchmal albern. Dazwischen der Griff zum Glas. «Kasch tengga!». Die Flippers aus der Box. Die Tagesaktualität – plötzlich ganz weit weg.

Vieles bleibt verschwommen. Manches bleibt draussen, aber nicht alles. Ein Zuhause auf Zeit ist das ist hier allemal. Für alle. Oder alle, die wollen. Und die, die müssen. Irgendwie noch immer ein bisschen «National». Sollte Chur dereinst tatsächlich unter dem von Niklas Meienberg (vgl. 1974: 70) erdachten Bergsturz zu liegen kommen, wird von weit unten etwas freudig empor klingen: die Bierhalle!

PS:  Gewählt ist mit (schlappen) 145 Stimmen …

(Bild: GRHeute)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.