Staldereien: Ganz unten

Staldereien: Ganz unten

«Erstens: Oberste Priorität hat die Erfüllung des Auftrages. Zweitens: Es gibt keinen Grund, den Auftrag nicht zu erfüllen.» Die Grussbotschaft des Fabrikvaters hängt schlicht dargeboten an der Fahrstuhlwand, die Zeilen fräsen sich in mein Gehirn. Neben mir steht meine neue Ausbildnerin für die nächsten Monate. Eine russische Prachtslaborantin mit wenig Sinn für Humor und beeindruckenden Hornhautschichten an den Händen. Es ist ein regnerischer Novembertag im Jahre 1996, einer, der schon von weitem gedrückte Stimmung verkündet. Eine unendliche Minute lang fährt der Lift von ganz oben hinab in die Katakomben des ‹Gelsenberg›, jenes hässlichen Betonbunkers an der nordöstlichen Ecke der grossen Fabrik, der dem Werk Teile seines Gesichts verleiht. In das Schweigen klacken rhythmische Klangfiguren des in die Jahre gekommenen Fahrstuhls. An meiner Brust klebt das Firmenlogo. In der rechten Labormanteltasche verstecke ich ein Buch, das mir dieser Tage die Welt bedeutet: ‹Günther Wallraff. Ganz unten.›.

«Hier lang!». Die Anweisungen meines neuen Über-Ichs sind knapp. Ich nenne Sie Warwara, die Barbarin. Im Laufschritt geht es durch miefende, neonbeleuchtete Gänge, vorbei an dampfenden Rohren, schmierigen Wänden und lärmenden Maschinen. Wir erreichen das Lager: zweihundertzwanzig Fässer synthetischen Öls, frisch geliefert. Warwara zeigt mir die Liste, erklärt, wie so ein Fass am einfachsten zu öffnen sei. Mit einem meterlangen Kunststoffstab rührt Sie um, zwei drei flinke Bewegungen, und eine Probe für die Qualitätskontrolle ist meisterhaft im Probenglas versenkt. «Anschreiben, immer anschreiben!», mahnt Sie mich. Und der Stab sei vor jeder Entnahme penibel zu reinigen. Sie deutet auf ein Lavabo, das ich als solches kaum erkenne. Danach verschwindet sie. Die restlichen zweihundertneunzehn Fass sind meine Aufgabe. Mein Auftrag für das Weltunternehmen. Ich mache mich an die Arbeit.

Gegen Mittag bin ich keine vier Fass weiter. Die Arbeit ist schwer, Warwaras Handgriffe wollen mir nicht gelingen. Oft scheitere ich schon beim Öffnen des Deckels. Fluchen. Vom Glanz der stylischen Laborwelt und dem wissenschaftlichen Groove ist hier unten nichts zu vernehmen. Der Labormantel wirkt geradezu lächerlich. Weisser Kittel, Dreck am Stecken. Denke es mir und mache weiter. Nur gut, verirrt sich niemand hierher. Nur gut, sieht niemand, was ich da eigentlich tue.

Ich bin im Verdauungskanal dieser Fabrik gelandet. Je länger die Zeit vergeht, desto mehr gewöhne ich mich daran. Nach Tagen entdecke ich weiter vorne eine Garderobe, früh morgens und manchmal am Nachmittag sind da Menschen. Vollbehaarte Männer die mich tagelang nicht grüssen. Erst nach Ablegen des Kittels und devoten Zigarettenspenden am Kaffeeautomaten entstehen Gespräche. Erste Einladung zum Bier. Ich lehne freundlich ab. Die Mannen sehen aus wie die Arbeitskollegen Wallraffs, auf dem Foto auf Seite 436. Verrückt: Ich lese das Buch, in dessen Kulisse ich selber gelandet bin. Die Tage, immer gleich. Ich weiss heute, was ich in drei Wochen tun werde. Täglich kommen neue Fässer. Der zuständige Abteilungsleiter – mein Freund, der flintrauchende Zwerg – verirrt sich nie hier runter. Es ist Warwara zu verdanken, dass ich das Loch eines Tages verlassen kann.

Die kompetenzlechzende, nach Olympia strebende Berufsbildung heutiger Tage würde die Bilder von da unten nimmer in den Hochglanzprospekten der Berufsverbände abdrucken wollen. Vielleicht ist das gut so. Was dreiundzwanzig Jahre danach bleibt, sind Erinnerungen an den Mief und an hart arbeitende, manchmal etwas schwer zugängliche Menschen. Und ihre Geschichten. In Warwara hatte ich mich gründlich getäuscht: Nie mehr danach würde mir jemand die russische Geschichte, ach was – Weltgeschichte! – besser erklären können, als sie. Und wo sonst hätte ich Gelegenheit erfahren, im Darmtrakt des räuberischen Chemiemonsters zwischendurch auf einem Polyalkylenglykolfass hockend Wallraffs Buch – mit auf mich durschlagend politischer Wirkung – lesen zu können?

Einen Gruss und ein Dankeschön an die Menschen vom ‹Gelsenberg›. Und Patron, was Ihr Grusswort angeht: Sie haben sich geirrt!

PS: Kürzlich entdeckte ich einen freundlichen Autohändler. Sein Name ist Klaui.

(Bild: GRHeute)

Kolumnist Bildung & Soziales, Schulleiter, Dozent und eine COIRASONhälfte. Zum Essen trinkt er Rotwein, beim Schreiben Espresso.