Brief aus Berlin: «Die WM und Deutschland – Eine Analogie des Scheiterns»

Brief aus Berlin: «Die WM und Deutschland – Eine Analogie des Scheiterns»

Gastkommentar
28.06.2018

Ein Gastkommentar von Tyll Mylius, Berlin

Ernüchternd war der Moment, als der Koreaner Heung-Min Son, einer der besten Spieler des Matches, den Ball ins leere Tor der Deutschen zum 2:0 Endstand schoss. Von den Gesichtern der deutschen Spieler konnte man ablesen, wie wenig sie mit dieser Niederlage gerechnet hatten, welche gleichzeitig das Aus bei der Weltmeisterschaft in Russland bedeuten sollte.

Doch woran lag es tatsächlich? Nicht wenige haben das Gefühl, dass die Mannschaft aufgrund ihrer eigenen Hybris gescheitert ist. Natürlich setzt sich jedoch solch ein Ausscheiden aus vielen Aspekten zusammen, die alle auf unterschiedlichste Weise ineinandergreifen.

Drei Hauptpunkte lassen sich erkennen, welche selbst einem wenig interessierten Fußballfan auffallen sollten: die fehlende Vision für das eigene Spiel, mangelnder Teamspirit und die Angst, den Status Quo als beste Fußballmannschaft der Welt zu verlieren.

Sinnbildlich können diese drei Attribute auch für die momentane politische, gesellschaftliche und ökonomische Situation in Deutschland stehen.

1. Fehlende Vision: Aktuell steht die Merkel-Administration mit dem Rücken zur Wand. Das zerrüttete Verhältnis zur CSU, welches vorrangig auf grundsätzlich verschiedenen Vorstellungen bezüglich der Flüchtlingsfrage zurückzuführen ist, markiert deutlich, dass die aktuellen Regierungsparteien keine konkreten Vorstellungen haben, wie das Deutschland der Zukunft aussehen könnte. Das erneute Eintreten der CDU in eine große Koalition unterstreicht, dass neue Wege und Ansätze in der Politik weder gewollt noch erwünscht sind. Das Wiederaufstellen einer Kanzlerkandidatin, die bereits zwölf Jahre im Amt war und stetig fallende Umfragewerte vorzuweisen hatte erschien, als hätte die Partei seit den 1990er Jahren unter Helmut Kohl nichts Nachhaltiges gelernt. Lange schon ist unter der von Angela Merkel geführten CDU keine Vision mehr erkennbar, wohin Deutschland in den nächsten Jahren eigentlich hinsteuern möchte. Doch nicht nur in der deutschen Politik ist erkennbar, dass ein wirklicher Innovationswille nicht mehr besonders stark ausgeprägt ist. Betrachtet man nur einmal die deutsche Autoindustrie, so stand diese in den letzten Jahrzehnten für ausgezeichnete Qualität. Dieser Ruf hat nach dem Dieselskandal nachhaltig gelitten. Doch fraglich ist, warum die deutschen Automobilgiganten überhaupt erst zu manipulativer Software greifen mussten, um weiterhin ihre Autos an den Mann zu bringen. Lange Jahre haben die deutschen Autobauern von Ihrem Nimbus gezehrt, ohne die Zeichen der Zeit der Digitalisierung und der Elektromobilität erkannt zu haben. Diese Selbstgenügsamkeit fällt ihnen nun auf die Füße. Genauso wie es der deutschen Nationalmannschaft ergangen ist, die sich zum Großteil auf «alteingesessene» Spieler verlassen hat, welche die Mannschaft schon irgendwie durch das Turnier tragen würden.

2. Mangelnder Teamspirit: Die Integrationspolitik in Deutschland ist für viele Wähler zum roten Tuch geworden. Die Frage, was Integration überhaupt bedeutet und ob nicht eigentlich Assimilation damit gemeint ist, ist so akut wie in den Hochphasen der «Flüchtlingskrise» im Herbst 2015. Eine wirkliche Position der aktuellen Regierung, welche Art von Zuwanderung man sich eigentlich vorstellt, sucht man vergeblich. Doch den meisten Ökonomen ist bereits jetzt bewusst: Ohne Zuwanderung, ob zielgerichtet oder nicht, wird es in nächsten Jahrzehnten in der deutschen Wirtschaft demografisch bedingt nicht gehen. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sowie auch deren Neuankömmlinge müssen Ihr Möglichstes tun, um einen Integrationsprozess überzeugt zu unterstützen. Doch in Zeiten, in denen in Europa und auch speziell in Deutschland rechtspopulistische Parteien einen immer stärkeren Auftrieb bekommen, rückt diese Integrationsidee in immer weitere Ferne. So kam es einem auch bei der deutschen Nationalmannschaft vor, wo viele Eigeninteressen über den Zielen des Kollektivs standen und neue Spieler gegenüber den Weltmeistern von 2014 erkennbar einen schweren Stand hatten.

3. Angst den Status Quo zu verlieren: Die verwaltende und besitzstandswahrende Politik in Deutschland hat in den letzten Jahren für zunehmende Unzufriedenheit gesorgt. Innerhalb Europas ist Deutschland mehr und mehr isoliert, viele echte Partner hat Merkel nicht mehr. Das stoische «Weiter so», welches wie ein Mantra wieder und wieder repetiert wurde, hat sich insbesondere seit der letzten Bundestagswahl als massiv schädlich herausgestellt. Es erschwert neue Wege und intelligente, innovative Antworten auf die komplexen Fragen einer sich schnell und dramatisch verändernden Welt zu finden. Viele Deutsche spüren dies intuitiv und fragen sich, wie es gelingen kann, den geachteten und wirtschaftlich erfolgreichen Platz in der Weltgemeinschaft langfristig zu behaupten. Neues, frisches, auch unkonventionelles Denken jenseits ausgetretener Pfade ist gefragt: in Deutschland, seinen Unternehmen und in seiner Nationalmannschaft.

Abschließend bleibt es zu hoffen, dass ein Erneuerungsprozess nicht nur in der deutschen Nationalmannschaft von statten gehen wird, sondern auch ganz Deutschland die Kraft findet, diesen zu vollziehen. Sonst werden die Konsequenzen auf lange Sicht weitaus schlimmer sein als das frühe Ausscheiden bei einer Fußball-Weltmeisterschaft.