«Ich habe mich aus Angst komplett abgeschottet»

«Ich habe mich aus Angst komplett abgeschottet»

M.B.* griff aus Einsamkeit jahrelang zur Flasche. Sucht und Depression übernahmen die Kontrolle über sein Leben. Ein Gespräch mit ihm und Suchtberaterin Christina Roth.

 

Herr B., Sucht und Depression sind nach wie vor Tabuthemen. Weshalb haben Sie sich bereit erklärt, Ihre Geschichte hier zu erzählen?

B: Ich möchte dazu beitragen, dass die Gesellschaft die Krankheiten Depression und Alkoholsucht akzeptiert und von der Verheimlichung dieser Probleme loskommt.

Frau Roth, Alkohol ist ein weit verbreitetes Genussmittel. Ab wann ist der Konsum problematisch?

Roth: Wenn Alkohol wiederholt eingesetzt wird, um Probleme «hinunterzuspülen» oder wenn er zum einzigen Mittel wird, um sich beispielsweise zu entspannen. Dann ist es kein Genusskonsum mehr. Ein Alkoholmissbrauch bedeutet, dass weiter konsumiert wird, obwohl gesundheitliche Schäden oder alkoholbedingte Probleme auftauchen, zum Beispiel in der Partnerschaft oder bei der Arbeit. Gefährlich ist auch ein Konsum in unangebrachten Situationen wie im Strassenverkehr oder beim Bedienen von Maschinen.

Herr B., wie hat Ihre Geschichte mit dem Alkohol begonnen?

B: Als ich 18 war, fing ich an in den Ausgang zu gehen und in Vereinen aktiv zu werden. Da wurde auch getrunken. In eine Sucht kam ich aber erst Mitte Zwanzig, als sich mein Leben grundlegend veränderte. Nach dem Studium bekam ich einen Job in Zürich, zu dem eine 80-prozentige Reisetätigkeit im Ausland gehörte. Weil ich immer unterwegs war, verlor ich meine Sozialkontakte. Auch im Ausland liessen sich keine bleibenden Beziehungen aufbauen. Ich vereinsamte mehr und mehr.

Haben Sie etwas gegen die Einsamkeit unternommen?

B: Ich spielte World of Warcraft, um wenigstens online einige Kontakte zu haben. Nebenbei trank ich immer Bier. Als die Online-Sucht eine kritische Grenze erreichte, ging ich deshalb in Behandlung und konnte aufhören. Aber ich brauchte einen Ersatz und fand ihn im Alkohol.

Also von einer Sucht in die andere. Was geschah dann?

B: Ich trank täglich, in immer grösseren Mengen. Selbst als mein Arbeitgeber mich wiederholt darauf aufmerksam machte, hörte ich nicht auf. Daraufhin verlor ich meine Stelle. Ich wurde depressiv und setzte den Alkohol als Medikament ein, um mich besser zu fühlen. Eine Stelle suchte ich nicht. Ich lebte von dem Geld, was ich noch hatte. Meine Familie wusste von all dem nichts. Ich schottete mich aus Angst vor Zurückweisung komplett ab

Wurde Ihre Familie nie darauf aufmerksam?

B: Sehr lange nicht. Ich wusste es zu verbergen. Erst als wir einen Suizid in der Familie hatten und ich nicht erreichbar war, passierte etwas. Mein Bruder machte sich Sorgen und schickte die Polizei bei mir vorbei. Er fand heraus, dass ich seit längerem nicht arbeitete und in eine Sucht abgerutscht war. In der Folge holte er mich nach Graubünden zurück und vereinbarte für mich einen Termin beim Sozialdienst für Suchtfragen. Er und mein Vater halfen mir auch, wieder eine Stelle zu finden.

Wusste Ihr Arbeitgeber von Ihrer Sucht?

B: Ja, ich ging offen damit um. Unter der Bedingung, dass ich mich zusammen mit Frau Roth für eine Besserung einsetze und die Pflichten aus dem Vertrag erfülle, bekam ich den Job. Trotz allem war ich nicht lange dort. Ich fühlte mich nicht wohl, nahm selten an Pausen teil und schottete mich ab. Und mein Alkoholkonsum ging nicht wirklich zurück, sondern stieg sogar wieder. Mir wurde schliesslich nahegelegt, das Unternehmen zu verlassen.

Was haben Sie dann unternommen?

B: Ich kündigte und entschied mich für einen Klinikaufenthalt, obwohl ich anfänglich Hemmungen demgegenüber hatte. Drei Monate lang war ich in Behandlung.

War es schwierig, während dieser Zeit «trocken» zu bleiben?

B: Nein, nicht wirklich. Man erhält Medikamente zur Entgiftung, welche die Lust aufs Trinken unterbinden. Ausserdem wird man mit Therapie und Beschäftigungsangeboten unterstützt, mit Sucht und Depression umzugehen. In dieser Zeit machte ich grosse Fortschritte.

Kam es nach der Klinik je zu einem Rückfall?

B: Als ich die Klink verlassen hatte, meldeten sich die Depressionen wieder. Ich zog mich wieder zurück und es kam zu einem leichten Rückfall. Mit Medikamenten konnte ich mich dann aber stabilisieren. Zusätzlich organisierte ich mein Leben neu, zusammen mit Frau Roth. Einen festen Platz in meinem Tagesplan bekamen Dinge, die mir gut tun – Sport, Gesellschaft und gewisse Verantwortungen. Einen Tagesrhythmus fand ich in einem Beschäftigungsprogramm beim Roten Kreuz Graubünden.

Heute fühlen Sie sich gut. Was hat Ihnen rückblickend am meisten geholfen?

B: Einerseits ist es sicher mein aktueller Job. Ich habe nette Menschen um mich, werde geschätzt und habe auch eine gewisse Verantwortung. Ausserdem weiss mein Arbeitgeber von meiner Krankheit und ich kann mein Pensum flexibel einteilen. Fast noch wichtiger war aber, dass ich mich anderen gegenüber geöffnet habe. Ich dachte immer, ich dürfe das niemandem erzählen. Dass sie schlecht über mich denken würden. Freunde, Familie und Vereinskollegen haben aber alle hilfreich reagiert und geben mir heute Halt.

Was würden Sie jemandem raten, der in einer ähnlichen Lage ist, wie sie es damals in Zürich waren?

B: Das Schlimmste war, dass ich selbst die engsten Familienmitglieder während mehr als zwei Jahren hinters Licht geführt habe. Das isolierte mich vollkommen. Darum würde ich appellieren: Öffnet euch gegenüber eurem engsten Umfeld. Habt keine Angst.

Roth: Suchtbetroffene können oft nicht aus eigenem Antrieb aus ihren Verhaltensmustern ausbrechen und Hilfe suchen. Angehörige, Freunde und Bekannte sollten deshalb bei einem Verdacht das Gespräch suchen und ihre Sorge ausdrücken.

Frau Roth, wann nehmen Ihre Klienten üblicherweise Kontakt mit Ihnen auf?

Roth: Die Meisten kommen, wenn sie bereits an einer Sucht leiden. Oft auf Empfehlung von besorgten Angehörigen, manchmal auch von Arbeitgebern. Es gibt aber auch Klienten, die merken, dass sie ein problematisches Verhalten entwickeln und uns frühzeitig kontaktieren.

Sucht ist oft auch mit Angst und Scham verbunden. Kann man sich auch anonym Hilfe holen?

Roth: Ja, natürlich. Betroffene und Angehörige können sich anonym per Telefon- oder Online-Beratung Hilfe holen. Angebote in Graubünden finden sich unter bischfit.ch.

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*Initialen von der Redaktion geändert.

 

(Bild: zVg., Download Bildmaterial: https://goo.gl/nnHe8A)