Peter Peyer: «Frau Martullo irrt sich»

Peter Peyer: «Frau Martullo irrt sich»

Peter Peyer
07.03.2018

Kürzlich hat sich Magdalena Martullo-Blocher, Unternehmerin, Nationalrätin, Multimillionärin an einer Medienkonferenz der SVP Schweiz zum Thema Personenfreizügigkeit, flankierende Massnahmen und Gesamtarbeitsverträge geäussert. In den Bündner Tageszeitungen „Südostschweiz“ und „Bündner Tagblatt“ doppelte sie nach. Zusammengefasst lassen sich ihre Aussagen wie folgt wiedergeben: die Personenfreizügigkeit, die flankierenden Massnahmen, Gesamtarbeitsverträge und die darin enthaltenen Mindestlöhne schaden dem Schweizer Arbeitsmarkt.

Natürlich haben diese Behauptungen zu Widerspruch geführt. Zurecht. Sie halten einer seriösen Prüfung nicht stand. Gemäss den aktuellsten Indexzahlen ist die Schweiz das produktivste und innovativste Land weltweit. Wahrscheinlich sind wir auch das reichste Land. Der Wohlstand ist einigermassen breit verteilt, die Schere zwischen sehr reich und arm ist vergleichsweise wenig geöffnet. Ganz offensichtlich schaden weder die Personenfreizügigkeit noch faire Anstellungsbedingungen und anständige Löhne dem Werkplatz Schweiz. Im Gegenteil: 100 Jahre nach dem Generalstreik, der in der Schweiz fast zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt hat, ist das über alles gesehen konstruktive Verhältnis zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden mit ein Grund für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz. Basis dafür war das Friedensabkommen von 1937. Unter dem Eindruck der Bedrohung von Aussen rauften sich die vernünftigen Kräfte von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften zusammen. Sie definierten verbindliche Regeln, wie Konflikte und Arbeitsstreitigkeiten gelöst werden sollen. Arbeitsfrieden und Sozialpartnerschaft haben sich bis heute bewährt. Sonst würde es der Schweizer Wirtschaft kaum so gut gehen.

Es gibt aber ein paar Herausforderungen für die kommenden Jahre. Neben dem Klimawandel ist es insbesondere die Digitalisierung. Deren Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Berufsbilder, Arbeits- und Freizeit sind noch diffus und werden je nach Standpunkt auch unterschiedlich beurteilt. Condoleezza Rice, die ehemalige US-Aussenministerin, hat es in der NZZ vom 26. Februar 2018 wie folgt auf den Punkt gebracht: „Technologie ist an sich weder gut noch schlecht, es kommt darauf an, ob sie vom Menschen gut oder schlecht genutzt wird. Doch unsere Weisheit ist nicht immer auf der Höhe unseres technischen Wissens.“

Erfolg oder Misserfolg der Digitalisierung aus Sicht des Gemeinwohls wird sich an der Fähigkeit der Politik zeigen, den technischen Fortschritt auch in gesellschaftlichen Fortschritt umzumünzen. Dabei müssen zentrale Fragen überzeugend beantwortet werden:

  • Schaffen wir es, dass der Produktivitätsfortschritt digitaler und automatischer Prozesse bei allen ankommt und nicht nur bei den Aktionären oder in den Industriestaaten?
  • Schaffen wir es, unsere Bildungssysteme so zu gestalten, dass alle Menschen auf die neuen Realitäten vorbereitet werden?
  • Braucht es im Zeitalter der künstlichen Intelligenz eher eine Stärkung der Kreativität, des kritischen Denkens und der emotionalen Intelligenz statt eine Fokussierung auf die sogenannten MINT-Fächer?
  • Wie verändern wir unser Steuersystem, um den Wandel von menschlicher zu maschineller Arbeit im Interesse des Gemeinwohls zu gestalten?
  • Wie verändern wir unsere Arbeitsgesetzgebung und unsere Sozialsysteme, damit der digitale Fortschritt nicht viele Verliererinnen und Verlierer auf dem Arbeitsmarkt produziert?
  • Wie gestalten wir unser Medien- und Informationssystem, damit ein unabhängiger Journalismus auch im Zeitalter digitaler Informationsübersättigung seine meinungsbildende und demokratieerhaltende Funktion erfüllen kann?
  • Wie schützen wir die Privatsphäre und die Daten der Bürgerinnen und Bürger vor dem Zugriff des Staates, aber vor allem auch der Konzerne und anderweitiger kommerzieller Interessen?
  • Wie garantieren wir die Netzneutralität und damit den freien Zugang zum Netz und die Gleichbehandlung aller Datenübertragungen?

Viele Fragen! Eine Antwort aber ist klar: nur wenn es uns gelingt, die Digitalisierung zum Nutzen aller voranzutreiben, werden der Wohlstand und die Innovationskraft der Schweiz gestärkt. Wie 1937 müssen wir uns zusammenraufen. Frontalangriffe auf die Grundpfeiler des Erfolgs, wie sie Frau Martullo führt, sind nicht nur inhaltlich falsch, sondern für die Schweiz schädlich. Sie hindern den Fortschritt.

Das aktuelle Papier der SP Graubünden zum Thema Digitalisierung: http://www.sp-gr.ch/wp-content/uploads/2018/02/Digitalisierungspapier_def_PT.pdf

 

(Bild: GRHeute)

Grossrat und Regierungsratskandidat der SP Graubünden, Trin