Brief aus Berlin: «Nach der Wahl ist vor der Wahl»

Brief aus Berlin: «Nach der Wahl ist vor der Wahl»

Gastkommentar
26.09.2017

Deutschland hat gewählt. Und die Ergebnisse zeigen, dass sich die Stimmung im Land geändert hat. Noch nie zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden so viele verschiedene Parteien im deutschen Bundestag vertreten sein. Eine Analyse.

Ein Gastkommentar von Tyll Mylius, Berlin

Kämpferisch zeigte sich Martin Schulz, nachdem seine Partei, die SPD, mit 20,5% das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren hatte. Galt er noch zu Jahresbeginn als der Garant für Aufbruchsstimmung und Wandel für die Sozialdemokraten, ist davon in den nackten Zahlen nichts mehr übrig geblieben. Und so war schon kurz nach der ersten Prognose um 18 Uhr die Entscheidung im Präsidium gefallen, wie die Zukunft der Partei auszusehen hat: Die SPD geht in die Opposition. Nach vier Jahren Grosser Koalition, in der man nicht wenige Punkte aus dem eigenen Wahlprogramm durchsetzten konnte, wie beispielsweise den Mindestlohn, konnte man die Wähler mit einem sozialem Wahlprogramm, welches das Thema Gerechtigkeit in den Vordergrund stellte, nicht mehr erreichen und mobilisieren. Was bleibt, ist der Blick nach vorne. Und die neue Gallionsfigur für diesen Aufbruch wurde ebenfalls schnell gefunden. Andrea Nahles, die scheidende Arbeitsministerin der aktuellen Regierung, wird den Fraktionsvorsitz der SPD aller Voraussicht nach übernehmen. Dies ist nur der erste Fingerzeig, in welche Richtung sich die Partei in den kommenden Jahren entwickeln wird. Nahles steht für den linken Flügel der Partei und wird die Oppositionsarbeit wohl auch in diesem Stil betreiben. Für die SPD wird die neue Ausrichtung wohl die letzte Möglichkeit sein, die Chance zu wahren, jemals wieder einen Kanzler stellen zu dürfen, da der Fokus nun auf einem Zukunftsbündnis mit der Linken und den Grünen liegen wird.

Die Grünen haben nun jedoch erst einmal ganz andere Pläne. Durch den Verzicht der SPD, eine Regierung zu bilden, bleibt nur noch die sogenannte Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, der FDP und den Grünen. Schon jetzt ist klar, dass die Verhandlungen über einen Koalitionsvertrag nicht einfach werden. Insbesondere Aspekte wie der Klimaschutz und die innere Sicherheit sind Themen, bei denen die Grünen z.T. komplett anderer Auffassung sind als die CSU oder auch die FDP. Gleichzeitig stehen die Grünen nun in der Pflicht. Nach zwölf Jahren Opposition  wird es Zeit, für Ihre Themen auch in einer Regierung einzustehen.

Wie Phönix aus der Asche ist die FDP wieder in den Bundestag eingezogen, nachdem diese 2013 an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Das Ergebnis von 10,7 % zeigt, dass sich der Erneuerungskurs der Partei um Christian Lindner gelohnt hat. Themen wie Digitalisierung und verbesserte Bildungschancen waren markante Punkte, die vor allem aus dem CDU-Lager viele Wähler ansprechen und überzeugen konnten. Man wird abwarten müssen, ob diese Stringenz auch in einer Regierung unter Führung von Angela Merkel beibehalten werden kann.

Für die CDU war es ein bitterer Wahlabend, sie ist die eindeutige Verliererin der diesjährigen Bundestagswahl. Ähnlich wie die SPD musste diese einen noch höheren Wählerverlust von fast 8% Punkten hinnehmen. Mit 33% ist es das schlechteste Ergebnis unter Angela Merkel und das zweitschlechteste in der Geschichte der Partei. Schon jetzt kommen die ersten Stimmen auf, ob der Kurs der Partei sich in den letzten Jahren nicht zu sehr in die soziale Mitte entwickelt hätte und man somit den Weg für die AfD am rechtskonservativen Rand geöffnet habe. Insbesondere Vertreter der Schwesterpartei CSU sind für ein „Weiter so!“ wohl nicht zu haben. Zwar wird die neue Regierung wieder von der CDU angeführt werden, doch wird es wohl die schwerste Amtszeit für Angela Merkel werden. Gleichzeitig ist auch fest davon auszugehen, dass sie sich nach 16 Jahren 2021 nicht noch einmal zur Wiederwahl stellen wird.

Der wohl grösste Wahlgewinner ist die rechtskonservative AfD. Mit knapp 13% ist die Partei um Spitzenkandidat Alexander Gauland die stärkste Partei unter den vermeintlich „Kleineren“. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die Beweggründe der Wähler. Fast zwei Drittel gaben an, die AfD aus Protest gewählt zu haben. Nur ein Drittel tat dies aus Überzeugung und wegen des Parteiprogrammes. Es liegt nun wohl doch an den etablierten Parteien, verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Andernfalls könnte es in vier Jahren abermals zu einem bösen Erwachen kommen.

 

(Bild: GRHeute)