Bluemoon’s Blog: Archivperlen – Das Ende der Sehnsucht Teil 7/13 (2006)

Bluemoon’s Blog: Archivperlen – Das Ende der Sehnsucht Teil 7/13 (2006)

Kürzlich durchforstete ich mein Archiv und fand darin unverwendete Perlen. Nun werde ich in unregelmässigen Abständen hier auf GR Heute, Geschichten, Gedichte und anderes Chrüsimüsi publizieren. Mit 18 schrieb ich ein Buch, druckte es als ich 20 wurde 50 Mal und wenig später verschwand es dann wieder von der Bildfläche. Nun möchte ich es euch hier nicht vorenthalten. Diese Perle hier stammt aus dem Jahre 2006. Viel Spass damit!

 

Als Angelina am nächsten Morgen erwachte, hatte sie so ein flaues Gefühl im Bauch. Die ganze Sache mit Naeco hatte sie sehr mitgenommen und dies waren jetzt die Nachwehen, die in ihr so einiges durcheinander brachten und sehr wahrscheinlich von der letzten blauen und schlaflosen Nacht stammten. Sie goss sich auf dem Bett sitzend ein Glas Wasser ein und trank es langsam aus. Dies war ein uraltes Ritual, welches sie seit langer Zeit pflegte und ihr dabei half, ihre zerstreuten Nachtgedanken zu sammeln und richtig zu ordnen. Erst danach konnte sie entspannt in den Tag starten.

Sie liess ihren Blick quer durchs Zimmer schweifen. Es war ein bisschen spärlich mobeliert und die Wände waren in einem Himmelblau gefärbt und grösstenteils kahl. Ausnahme war das obersüsse Snoopyposter, welches Naeco ihr irgendwann einmal geschenkt hatte.

Angelina brauchte viel Raum, um Nachdenken zu können und holte sich diesen in dem sie geschickt auf kitschige Assesoires und Souvenire verzichtete. Sie liebte die Ruhe, der dieser Raum mit sich brachte und die sie nicht wirklich erklären konnte oder überhaupt wollte. Es lag einfach ein grosser Spirit in der Luft, den sie glücklich stimmte. Sie stand auf und öffnete die riesigen Fenster, die auf den grossen Garten herunterschauten. Sie öffnete diese, doch heute konnte ihr diese frische Luft keine wirkliche Erfrischung bieten, also lief sie in die Küche und wollte sich etwas zu Essen schnappen, um nachher in den Stollen gehen zu können.

Doch bevor sie überhaupt beim Kühlschrank ankam, sah sie, dass die Post bereits auf dem Tisch lag. Ihre Mutter hatte heute wahrscheinlich ein wenig Zeit vor dem Gehen vorig gehabt und daher auch gleich noch die Post geholt. Sie sah alles kurz durch, doch viel interessantes hatte es nicht wirklich dabei.

Rechnungen an sie und ihren Vater, eine Ferienkarte aus Ägypten von ihrer Patentante, einen Modekatalog und einen Brief. Lediglich der Brief zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Es war ein von Hand beschriftetes Couvert, dass vorne die Letter ihres Namens trug. Langsam schnitt sie das Couvert mit einem Küchenmesser oben auf und entnahm das Blatt, welches den Inhalt bildete. Angelina stieg ein Duft zur Nase, der ihr irgendwie bekannt vorkam. Es war dieser spezielle Rosenduft mit anderen Düften von Pflanzen, welcher unwiderstehlich war und einem direkt ins Paradies beförderte. Sie liebte dieses Parfüm über alles und lediglich zwei Personen wussten dies!

Ihre eigene Mutter und Naeco. Wollte er sich etwa entschuldigen? Sie musste lächeln bei diesem Gedanken. So öffnete sie das Papier, das zwei Mal gefaltet worden war. Die Schrift war gehetzt geschrieben und für Naecos Verhältnisse sogar richtig unlesbar.

„Liebe Angelina! Ich weiss, du kannst mich nicht verstehen, darum habe ich mich letzte Nacht entschieden, ganz alleine mit meinen nötigsten sieben Sachen los zu fahren und allem, was mir hier noch ein kleines bisschen am Herzen lag, den Rücken zu kehren. Während du diesen Brief liest, werde ich wahrscheinlich schon irgendwo in Frankreich sein und eine Nachtresidenz suchen.

Es tut mir so schrecklich leid. Doch ich musste einfach durchbrennen und abhauen, bevor mich mein Fernweh völlig auffrisst. Ich weiss, dass du jetzt weinst und glaubst du hast mich verloren. Ehrlich gesagt, sind mir diese Gedanken auch durch den Kopf gerannt und der Verlust von dir, schmerzt grässlich. Wie kann ein Mensch einen anderen verlassen, obwohl dieser doch das Wichtigste in seinem Leben darstellt. Es ist hart Freunde zu verlieren, wenn sie sterben, doch es ist noch schwerer sie zu verlieren, wenn sie immer noch am Leben sind. Oh, wie ich die Wahrheit dieses Satzes im Moment in mir stechen spüre.

Wieso nehme ich mir diesen Satz nicht zu Herzen und versuche wieder Zugang zu deinem Herzen zu finden? Wieso renne ich weg? Es tut mir schrecklich leid, aber ich muss diese Fragen in der Luft hängen lassen und gehen. Mein Zigeunerherz brennt und scheint zu verhungern, wenn seine Sehnsucht nicht bald gestillt wird. Jetzt weisst du, was ich will.

Die Frage ist nur: Was willst du? Schneller alt werden? Gleich werden wie die Anderen, die wir nie verstanden? Morgen Dienstag um halb fünf nachmittags werde ich am Mont Pellierer Flughafen warten. Überlege gut, was du willst, denn es gibt jemanden, dem du viel bedeutest und der dich nicht verlieren will. Bye, Naeco.“

Angelina flog fast in Ohnmacht. Wie konnte er nur? Das ging einfach nicht und war unter jeglichem Niveau. Er forderte sie aus heiterem Himmel auf, alles aufzugeben und zu verlieren, nur um ihn wieder zu gewinnen!!! Dieser Mensch hatte auch noch eine rechte Meinung von sich.

Eigentlich war er der Streitstifter und an der Reihe Kompromisse einzugehen. Er konnte sie echt mal!!! Angelina packte ihre Sachen unter wütenden Tränen und ging wie jeden Tag zuvor arbeiten. Sie regte sich dermassen auf, dass sie heute bei der Arbeit so ziemlich alles falsch machte, was man falsch machen konnte. Sie fragte sich, wie alt Naeco eigentlich war. Diese Idee war sehr naiv und mehr als utopisch. Ausserdem stellte er ihre Existenz und ihren noch ganz guten Job mit der damit verbundenen sozialen Stellung in ein extrem schlechtes Licht und bezweifelte jeglichen Sinn ihres bisherigen Lebens. Das alles stimmte sie sehr, sehr traurig.

Sie hatte Naeco nicht nur aus den Augen, sondern auch aus dem Herzen verloren.

Gleichzeitig irgendwo in einem kleinen Vorörtchen von Mont Pellier stieg Naeco aus seinem Auto. Er war die ganze Nacht durchgefahren, hatte alle Tapes aus seiner Sammlung durchgehört und etwa fünf Liter Café getrunken, um diese Tortur durchzustehen.

Obwohl er nur einmal kurz für eine Viertelstunde kurz vor der Schweizer Grenze ein kleines Nickerchen gehalten hatte, war er jetzt topfit. Er spürte das mediterane Klima und hatte so ein richtiges Flowerpowergefühl im Bauch, welches ihn aufputschte und high machte wie ein gutes spanisches Gras.

Doch er musste wirklich ein bisschen sich aufs Ohr legen, um den Rückstand aufzuholen. Ausser den zwei Tankstopps und dem kleinen Nickerchen hatte er nie Pause gemacht. Und auch nichts ausser Café und Zigaretten zu sich genommen. Jetzt musste ein Hotel her, um zu Essen und Schlafen. Das war es, was ihm fehlte. Und so nahm er sich dann ein Zimmerchen in der erstbesten Bude. Etwas zu Essen hatte er glatt vergessen.

Er war jetzt einfach nur müde. Früher oder später erschlägt es einem eben doch, wenn man kaum geschlafen hat. Naeco schmiss sich aufs Bett, nachdem er bei seinem Handy, welches noch mit dem Empfang zu kämpfen hatte, den Wecker ein und döste dann sofort ein.

Um vier Uhr knallte sein Mobilphone ihm kräftig ins Ohr und liess ihn auffahren. Unglaublich, welche Intensität dieses „Vermillion“-Lied von Slipknot hatte, dass ihn jetzt aus dem Schlaf gerissen hatte. Er war gleich wieder voll da.

Klar war noch ein kleines Schlafmanko, doch mit dem lebte er ja schon über Jahre hinweg. Er steckte sich eine Zigarette an, schaute ins Zimmer, um herauszufinden, ob es auch noch irgendwas Nützliches gab um es mitgehen zu lassen. Er packte die Badetücher und die Seifen ein, nahm seine Sachen und verliess das Zimmer.

Naeco brauchte sich keine Sorgen machen, denn er hatte am Morgen für die ganze Woche gebucht. Er gab einen falschen Namen an und legte einen gefälschten Scheck vor. Naeco hatte kein Problem damit, Leute zu täuschen. Es amüsierte ihn sogar sehr. Das Geld war so oder so ungerecht verteilt und so reich wie dieses Hotel aussah, konnten sie das sicher locker verkraften.

„Kein Morgenessen, Herr Zimmermann?“, fragte ihn der tamilische Portier mit einem lustigen Akzent in dessen Deutsch, was Naeco lächeln machte.

„Non, merci! Je n’ai pas faim.“, antwortete er voll Rücksicht, da er dachte, dass dieser Typ sicher das deutsche Wort nicht kannte. „Je vous souhaite une belle journeé!“, gab dieser ein wenig verwundert zurück. „Merci!“

Naeco schmiss seine Sachen aus dem Hotel in den Kofferraum, stieg ein und schmiss seinen Wagen an. Verdammt, es war bereits Viertel nach. Er fuhr so schnell, wie es gerade erlaubt war in Richtung Flugplatz. Lieber wäre er ja noch kurz ans Meer, das er schon mehr als zehn Jahre nicht mehr gesehen hatte. Aber was soll’s? Er hätte ja nachher sicher noch Zeit schwimmen zu gehen. Punkt halb fünf fand er dann sogar noch einen Parkplatz am Flughafen und sah gerade, wie das Flugzeug, in das er seine Hoffnungen steckte, einflog. Er stieg aus und hastete in die Empfangshalle, wo langsam alle Leute von diesem Flug eintrudelten.

Es waren Alte, Junge, Schwarze, Weisse und es hatte sogar noch ein paar Kinder dabei. Naeco dachte daran, dass er noch nie geflogen war und auch höllisch Angst davor hatte seit er den Film „Final Destination“ gesehen hatte. Doch Angelina kam nicht…

Naeco war masslos enttäuscht und tieftraurig. Er hatte sie nun endgültig verloren. Ihre Wege trennten sich ab diesem Moment. Er hatte es fast geahnt und doch tat es weh. Es war zu Ende. Ein grosser Teil seiner Illusion war soeben einfach gestorben. Unglaublich verletzend, wahr und hart. Ja, ja, shit happens. Doch dieser Scheiss hatte nichts humoristisches an sich, wie es bei diesem Zitat eigentlich im Ursprung gedacht war. Naeco war wieder (oder immer schon?) der einsame Reiter ohne Glauben an sich und voller Leere.

Er tröstete sich damit, dass ein Poet nur durch Einsamkeit und Melancholie zur absoluten Muse finden konnte. Alle Gedanken, die darauf hinausführten Angelina irgendwie negativ zu kritisieren und ihr das Krönchen vom Kopf zu stossen, hatten bei Naeco ihre Wirkungskraft verloren. Egal, was nützte es ihm sich einzureden, dass sie ja gar nicht so hammermässig sei, obwohl er ja gerade das Gegenteil fühlte?

So, jetzt brauchte er erst einmal einen Café und ein paar Zigaretten. Zwanzig Meter vis-à-vis vom Flughafen hatte es ein kleines, aber feines Bistro. Naeco setzte sich ganz hinten in die Ecke, orderte einen Café und betrachtete die Bilder an den blauen Wänden. Naeco musste schmunzeln, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schlich. Er erinnerte sich an einen billigen Hollywoodfilm, in dem Personen auf Bildern plötzlich sprechen konnten.

Welche stupide und debile Idee gezeugt von gelangweilten Idioten, die keine realistische, in seinem Fall romantische, Phantasie hatten. Er griff oft nach Sternen und doch blieb er von mystischen, unerklärbaren Ideen fern. Spezialfälle waren natürlich Gefühle, die er oft zu erklären versuchte. Er hatte einfach nicht das kindische Element in sich, da er dies lächerlich fand. Er hasste auch Peter Pan und all diesen Quatsch, im Moment auf jeden Fall. Er lebte seine Träume und schob sie nicht auf eine schlechte Kunstfigur über. Der Café kam und Naeco drückte seine Zigarette aus, wendete seinen Blick ab vom Bild aus den Filmen und nippte kurz an seinem Tässchen. Dieser Café erheiterte seine schlechte Stimmung ein wenig. Er liebte Café über alles. Genau wie Bier war dieses Getränk eine Medizin gegen alles und beglückte ihn.

Gut eine Stunde verweilte er gedankenverloren dort. Seine Blicke schnitten tiefe Löcher in die Luft und seine Gedanken kreisten um alles und trotzdem um nichts. Naeco rief die Kellnerin, um zu zahlen. Sie gab nur kurz ein „une jeune dame a déjà paié pour vous.“ von sich und verabschiedete sich wieder in Richtung Theke.

Mein Gott, was war denn hier los? Es kannte ihn hier ja niemand weit und breit und trotzdem hatte eine junge Dame für ihn bereits bezahlt. Das konnte nicht sein. Das roch too much nach Hollywood. Jetzt war er in noch einem anderen falschen Film. „Bonjour monsieur.“, sprach eine ihm vertraute Stimme vom Tisch nebenan.

Naeco drehte seinen Kopf und glaubte kaum, wer da sass. Es war doch tatsächlich Angelina. Er kniff sich in den Arm, um zu sehen, ob er wirklich nicht bloss träumte.

 

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Chris Bluemoon

Redaktor Kultur
Hauptberuflich Radio-Journalist mit viel Leidenschaft für die Musik, die Poesie und das ganz grosse Chaos.