Der «Brexit» aus Sicht eines Bündners in Edinburgh

Der «Brexit» aus Sicht eines Bündners in Edinburgh

«Panik» beschreibt die Reaktionen der Märkte, Politiker und europäischen Öffentlichkeit vom Freitag Morgen wohl am besten. Für viele ist das Schreckensszenario des Brexits wahr geworden. Und doch ging die Sonne auch an diesem verheissungsvollen Freitag über dem Königreich auf. Keine apokalyptischen Reiter weit und breit, obwohl das Remain-Lager die Konsequenzen eines Austritts in etwa so beschrieben hatte. Verständlicherweise reagierten die Börsen weltweit mit Kurseinbrüchen und einer Pfundentwertung auf die vor Britannien liegende Zeit der Unsicherheit. Bei politischen Entscheidungen, die mit einem gewissen Risiko verbunden sind, ist dies aber zu erwarten. Die Anleger versuchen den grösstmöglichen Gewinn aus der Situation zu ziehen, was die Börse zwar kurzfristig in Mitleidenschaft zieht, mittelfristig aber wieder auf eine Stabilisierung hinausläuft.

Kurz nach acht Uhr morgens trat Premierminister Cameron vor die Medien und erklärte seinen Rücktritt für Oktober diesen Jahres. Obwohl er dies bei einem allfälligen Sieg der Leave-Seite in aller Form ausgeschlossen hatte, ist es der richtige Schritt. Man kann nicht in der wichtigsten Frage seiner Amtszeit eine andere Position als die Volksmehrheit vertreten, und dann die letztere gewissenhaft und im Sinne der Abstimmung umsetzen. Mit der Entscheidung eines langsamen Wandels verhilft der Premier in seinem letzten Amtsjahr Grossbritannien aber zu einem sicheren Übergang und verhindert die völlige Orientierungslosigkeit der britischen Politik, welche ein sofortiger Rücktritt verursacht hätte.

Politisch wie wirtschaftlich bleibt vorerst also alles beim status quo. Das Protokoll eines EU-Austritts sieht als nächsten Schritt das Inkrafttreten von Artikel 50 des Vertrags von Lissabon vor. Dieses besteht aus einem förmlichen Schreiben des Premierministers an den Europäischen Rat, in welchem die Entscheidung über den Austritt mitgeteilt wird. Cameron schloss dieses Verfahren in seiner Rede aus und möchte diesen Schritt seinem Nachfolger überlassen, welcher dann auch die Austrittsbedingungen verhandeln soll. Die Führung der Union hingegen verlangte umgehend, dass der Austritt «so schnell wie möglich erfolge». Auch wenn der Druck der EU zu einem sofortigen Inkrafttreten von Artikel 50 führt, drehen sich die Mühlen der Brüsseler Bürokratie noch zwei weitere Jahre, bis dieser schliesslich Realität wird.

Die Panikmacher seien an dieser Stelle beruhigt: Der Brexit führt zu keinen Konflikten oder Mauern in Europa. Diese Sorgen kann man sich getrost für Nordamerika im Falle des Erfolges eines gewissen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten aufheben. Die politische und wirtschaftliche Realität in Europa sieht anders aus. Oft vergisst man, dass es ein Leben nach der EU gibt. Den europäischen Staaten stehen mehr als genug Mittel zur Verfügung, das ökonomische Wachstum des Kontinents auch ausserhalb der Union zu sichern. Als Beispiele seien hier die EFTA oder bilaterale Verträge, wie sie die Schweiz mit der Union pflegt, genannt.

Was die Bedingungen des Austritts Grossbritanniens angeht, dürften sich die Insulaner auf einiges gefasst machen. Die EU-Spitze will ein Exempel statuieren und für anderen Euroskeptiker zeigen, dass sich ein Austritt auf keinen Fall lohnt. Nur kommt sie da wohl etwas zu spät. Der Euroskeptizismus feiert Erfolge auf dem ganzen Kontinent, bereits wenige Stunden nach Bekanntwerden der Resultate im Königreich forderten Le Pen und Wilders ähnliche Referenden in ihren Ländern. Wie auch immer die Geschichte ausgehen mag, wir sollten sie nicht als Schreckensszenario betrachten, sondern als das, was sie wirklich ist: Eine Chance auf einen freiheitlichen Neuanfang in Europa ohne den drohenden Superstaat EU.

 

(Bild: Pixabay)

author

Franco Membrini

Kolumnist
Hat an der University of Edinburgh seinen «Master of Science in History» absolviert. Zuvor studierte der Churer Geschichte, Betriebsökonomie und Staatsrecht an den Universitäten Bern und Bologna.

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