Die Zugezogene sait: «Eine Hass-Liebe.»

Die Zugezogene sait: «Eine Hass-Liebe.»

Ein Artikel im Tages-Anzeiger über das aktuelle Befinden Graubündens hat über das Wochenende viele Reaktionen ausgelöst. Auch bei GRHeute. Eine Zugezogene (Rachel Van der Elst) und eine Weggezogene (Sonja Gambon) nehmen Stellung.

 

Auf der jetzt alten 50er Note war ein Bildnis von Sophie Taeuber Arp. Sophie Täuber Arp war eine Vertreterin des Dadaismus Geboren in Davos, wuchs sie im Appenzellerland auf und starb schliesslich in Zürich. Und seit letztem Dienstag verlässt sie Zahlung für Zahlung unser Bewusstsein, bis wir nicht mehr wissen werden, wer vor der Weltkugel auf der 50er Note war.

Was die alte und die neue Note gemeinsam haben: Das Papier dafür wurde und wird in der Papierfabrik Landqart gedruckt; dort, wo fast für alle Noten dieser Welt das Papier gedruckt wird. Beides ist, wäre Kapital – jenseits von Giacometti und Kirchner.

Das Bündnerland hat noch mehr zu bieten, was im Artikel des «Tages-Anzeigers» nicht zu Sprache kommt. Der ehemalige Soap-Star Niklaus Schmid. Dass in Graubünden noch viel brach liegt, das offen sein könnte und ist für Innovationen und neue Ideen. Dass es Leute gibt, die gar danach lechzen. «GRHeute» zum Beispiel wäre in Zürich nicht möglich – die Konkurrenz ist viel zu gross und etabliert.

Und dennoch ist was faul im Kanton Graubünden. Die Leute ziehen weg, und es gibt ganz viele Gründe, warum es auch mir manchmal schwer fällt, hier zu sein. Ich sehe, wie es einem als Frau schwer gemacht wird, Karriere zu machen. Es fängt bei den fehlenden (Teilzeit-)Stellen an, geht bei der fehlenden schulischen Nachbetreuung weiter und hört beim Neid und beim Föhn auf.

Der Tourismus, das Sorgenkind und fast einzige Einnahmequelle von Graubünden, ist noch immer der, den ich in den 80er Jahren als Ferienkind erlebt habe. Ausser dass das Internet dazu kam, und da wird es fast noch schlimmer: Mitte April starren mir auf der Seite von Graubünden Ferien Schneemassen entgegen, wie es sie den ganzen Winter nur an wenigen Tagen gab, und der Slogan lautet noch immer: «Winterurlaub, der zu ihnen passt».

Man kann den Touristikern zu Gute halten, dass an manchen Orten die Saison erst gestern zu Ende ging. Aber die paar Nasen, die jetzt noch Skifahren wollen, die wissen, wo die weisse Pracht hockt und sind imstande, sich ihr Package auch aus einem kleinen Link auf der Seite zusammen schustern. Die anderen haben den Winter vergessen weil er zum vergessen war und wollen wissen, welche Biketrails schon offen sind. Denn: Auch das Wetter ist ein nicht zu verachtender Bonus von Graubünden.

Aber es geht noch weiter. Andreas Wieland bemängelt, dass Italienisch die erste Fremdsprache ist, und die es Ingenieuren schwierig macht, nach Graubünden zu ziehen. Mich nimmt wunder, wie die Ingenieure reagieren, wenn sie erfahren, dass ihre Frau mangels fehlender Kinderbetreuungsangebote nicht arbeiten können, obwohl sie es noch so sehr wollen.

Graubünden und ich, das ist eine Hass-Liebe. An manchen Tagen bin ich total verliebt, an manchen anderen Tagen will ich nix wie weg. Wo ich aufwuchs, im Appenzellerland, war die Situation in vielen Aspekten gleich. Und mir war immer klar: Dahin gehst du nicht zurück. Wenn meine Kinder gross sind und das Leben immer noch so ist wie jetzt, wird ihnen oder ihren Freunden nichts anderes übrigbleiben, als Graubünden für immer zu verlassen.

Menschen, die im Kanton ausgebildet wurden. Menschen, die Graubünden im Herzen tragen. Menschen, die ihr Leben frei wählen wollen – ohne von Sachzwängen wie fehlende Stellen abhängig zu sein. Ich frage mich, wie hoch der Preis dafür ist, den Graubünden jeden Tag zahlen muss. Finanziell und kulturell.

 

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Rachel Van der Elst

Redaktionsleiterin/Region
Rachel Van der Elst mag Buchstaben: analog, virtuell oder überall, wo Menschen sind. In einem früheren Leben arbeitete sie unter anderm bei der AP, beim Blick, bei 20Minuten, beim Tages-Anzeiger und bei der Südostschweiz. In ihrer Handtasche immer dabei: Jasskarten.