Die Weggezogene sait: «Immer noch stolz!»

Die Weggezogene sait: «Immer noch stolz!»

Sonja Gambon
18.04.2016

Ein Artikel im Tages-Anzeiger über das aktuelle Befinden Graubündens hat über das Wochenende viele Reaktionen ausgelöst. Auch bei GRHeute. Eine Zugezogene (Rachel Van der Elst) und eine Weggezogene (Sonja Gambon) nehmen Stellung.

 

Zeus Palma sei die einzige positive Nachricht aus dem Kanton Graubünden. Die Kuh, die letztes Wochenende sechsmal bei den Braunvieh-Europameisterschaften in Frankreich prämiert wurde, unter anderem als beste Leistungskuh und für das schönste Euter, sei wohl das Einzige, was Graubünden noch zu bieten hat. Damit beginnt Bundeshausredaktor Fabian Renz eine Kritik am Kanton, die in mir Unbehagen auslöst.

«Was ist bloss aus den einst stolzen Bündnern geworden?», titelt Renz am Samstagmorgen im «Tagi». Das zeigt Wirkung: in nur wenigen Stunden wurde der Artikel online fast 350 Mal geteilt. Auch ich teilte ihn und bekomme im Gegenzug mehrere Nachrichten, wie ich das sehe. Dies will ich nun versuchen in Worte zu fassen.

Zuerst einmal: Wir sind immer noch stolz. Es ist ein schönes Gefühl, aus Graubünden zu sein, dieser Kanton umgibt einen mit einer Aura der Landluft, einer Bedächtigkeit und einer Heimatliebe, die «Ausserkantönler» wohl nicht so kennen. Wie ich schon mehrmals geschrieben habe, kenne ich niemanden, der Bündner nicht mag, es gibt keine schlechten Vorurteile (ausser dass wir vielleicht zu oft kiffen und rappen, was aber nicht so unsympathisch ist meiner Meinung nach ;)) und auch unser Dialekt gehört zu den beliebtesten, wie auch Arthur Honegger letze Woche in «10 vor 10» erwähnte.

Klar, und da muss ich Renz recht geben, wirtschaftlich gesehen geht es dem Kanton schlecht. Der Wintertourismus hatte schon bessere Tage, die Somedia kündigt immer weitere Sparmassnahmen an, grosse Arbeitsgeber gibts nur wenige und die jungen Leute ziehen mangels Arbeitsplätzen und Ausbildungsmöglichkeiten weg. So wie ich, so wie alle meine ehemaligen Schulkollegen, so wie alle meine Freunde und meine Schwestern. Eine berufliche Zukunft sehe ich in Graubünden auch nicht. Die Abwanderung ist ein grosses Problem, das angegangen werden muss. Leider habe ich grad auch keine Lösung zur Hand, aber: es braucht eine intensive Auseinandersetzung, innovative Ideen und einen starken Zusammenhalt zwischen den Tälern. Die Zeiten, in denen jeder sein eigenes Ding machen konnte, sind nun mal vorbei.

Dass Martullo-Blocher gewählt wurde, kann ich mir auch nur als wirtschaftlichen Hilferuf erklären. Martullo hat Ressourcen, leitet mit der Ems-Chemie einen regional äusserst relevanten Arbeitgeber und steckt Arbeit in den Kanton. Es ist in den Augen der Wähler wohl keine Auslagerung der Macht, kein Zeichen, dass in den Tälern selbst niemand qualifiziert sei für dieses Amt, sondern die pure Verzweiflung.

Graubünden ist kompliziert. Weit weg von den Ballungszentren geht hier alles etwas langsamer, es dauert, bis die Entwicklungen ankommen. Dorfrivalitäten scheinen hier noch ganz normal, was die Abstimmungsergebnisse bei Olympia, das Misstrauen der gemeinsamen Hochsprache im Romanischen und die Abwehrhaltung gegenüber Fremden(m), teilweise erklären kann. Hier sind alle etwas eigenbrötlerisch, und trotz all diesen Problemen, die für die Stadtbevölkerung konfus wirken muss, sind wir stolz auf unseren Kanton. Renz gesteht Graubünden die schönen Seiten auf wundervolle Art ein, die ich hier gerne zitieren möchte.

«Aber dann gibt es da ja immerhin noch: die gesunden Kantonsfinanzen. Die vielfältige Politlandschaft (anders als im Wallis mit seiner CVP-Monokultur). Die Bündner Landwirtschaft mit dem schweizweit höchsten Bio-Anteil. Endlich die Entschlossenheit, Verkrustungen aufzubrechen (Gemeinden und Destinationen kooperieren und fusionieren immer schneller). Den Bündner Prag­matismus (Wölfe leben hier auch nach einem Schafriss länger als anderswo).

Und es gibt, immer noch, den Morteratschgletscher. Die Greina-Ebene. Das melancholische Lächeln der Schynschlucht. Das Leben in der Churer Altstadt. Den Geschmack des Calanda-Biers. Den Bündner Dialekt. Den Geruch des Windes in den Rebbergen der Bündner Herrschaft. Das schwer zu beschreibende Gefühl, wenn man mit dem Zug nach Sargans über die Rheinbrücke auf Bündner Boden übergesetzt hat.»

Auch wenn es nicht einfach ist im Moment: Wir haben Hoffnung, wir wollen uns beweisen, wir meistern diese Krise. Ich werde meinen Heimatstolz nie verlieren.

 

 

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Sonja Gambon

Bloggerin
Studiert in Luzern Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften. Schreibt die Blog-Serie «Bündner im Exil».